Ex-Stasi-Mann:"Mit dem Stiefel im Genick"

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Ein früherer Stasi-Agent bricht das Schweigen und erzählt, wie DDR-Bürgern die richtige Einstellung vermittelt wurde.

Varinia Bernau, Jördenstorf

Da lief er nun durch die Straßen von Rostock. Unbeholfen wie ein kleines Kind. Trotz seiner 29 Jahre. Er suchte Arbeit. Nichts sollte leichter sein in der DDR, wo es doch angeblich Arbeit für alle gab. Und nichts war schwerer für einen wie ihn, der die Seiten gewechselt hatte. Drei Monate zuvor, im Dezember 1985, hatte Gerd Reinicke um seine Entlassung aus dem Dienst bei der Staatssicherheit gebeten. Nun stand er vor dem Nichts.

Mann mit Stasi-Vergangenheit: Gerd Reinicke. (Foto: Foto: oh)

Die Geschichte des Gerd Reinicke ist schon deshalb eine besondere, weil er sie selbst erzählt. Heute gibt es jene, die den Dienst für die Staatssicherheit verurteilen. Und es gibt jene, die über dieses dunkle Kapitel der jüngeren deutschen Vergangenheit den Mantel des Schweigens hüllen. Gerd Reinicke aber will reden. Nicht, um sich zu rechtfertigen, wie er sagt. Sondern weil er einen Fehler gemacht hat. Und weil er glaubt, daraus gelernt zu haben. Er erzählt seine Geschichte in Schulen und auf Vorträgen, er hat sie sogar in einem kleinen Buch niedergeschrieben.

Bei der Staatssicherheit konnte man damals nicht so einfach kündigen wie in der Personalabteilung eines normalen Betriebes, wenn einem der Job keinen Spaß mehr macht. Lange hatte auch Reinicke überlegt, ob er überhaupt den Mut dazu hat. Wochen über Wochen, erinnert er sich, musste er bei Versammlungen erscheinen und sich vor den Genossen rechtfertigen, sich wehren gegen angebotene Hilfe, ihn wieder "auf den richtigen Weg zu bringen". Er wusste, wie die Stasi Freundschaften und Familien zerstören konnte. "Wenn einer nicht die richtige Einstellung hatte, musste daran gearbeitet werden. Und zwar mit dem Stiefel im Genick", sagt der 53-Jährige.

Mit 17 Jahren hatte sich Reinicke von der Staatssicherheit anwerben lassen. Er wollte zur Marine und saß eines Tages zwei Männern gegenüber, die ihm sagten, dass sie vielleicht noch etwas Interessanteres für ihn hätten. Ja, sagt er heute, er habe sich beeindrucken lassen von den Uniformen und dem Grenzboot, mit dem er über die Ostsee sauste. Aber er habe auch geglaubt, der richtigen Sache zu dienen. Sein Vater hatte die Bombardierung Dresdens miterlebt. "Bei uns zu Hause am Küchentisch, da waren die Amis die Bösen." Also schützte Reinicke die Grenze vor den Bösen.

Erste Zweifel, erzählt er, kamen ihm, als er sogenannte Republikflüchtlinge verhören musste. Zum Beispiel einen Reeder, der, als er von der See heimkam, feststellten musste, dass seine Frau mit einem anderen Mann fort war - und das gemeinsame Konto geräumt hatte. "Das war ein persönliches Schicksal. Ich konnte verstehen, dass der die Schnauze voll hatte und abhauen wollte. Vielleicht hätten die mir einen echten Feind vorsetzen müssen. So habe ich irgendwann gedacht: Wenn die nicht bleiben wollen, sollen sie doch gehen."

Wenig später wurde er in die Postkontrolle versetzt - und aus seinen Zweifeln wurden, wie er sagt, große Bedenken. "Wie in einem Zwergenbergwerk war das", versucht er zu umschreiben, was er selbst nicht fassen konnte, als er in einer maroden Villa stand. Mit weißen Handschuhen wühlte ein ganzes Heer von Stasi-Leuten Stapel fremder Post durch. Stille herrschte in den Räumen. Und wenn man miteinander sprach, dann in zackigem Ton, im Parteijargon. Diese Akribie, mit der der Staat sein Volk überwachen wollte, und diese trockene Begeisterung, mit der die Leute aus der Postkontrolle diese Aufgabe erfüllten - das habe ihn erschüttert.

Sechs Jahre lang, erzählt Reinicke in behäbigem, breitem Norddeutsch, habe er widerwillig Dienst geleistet. Bevor er nach Hause ging, musste er in Listen eintragen, was er am Abend noch machen, welche Freunde er besuchen, welche Kinofilme er sich ansehen würde. Dann machte er Schluss - und hatte ein Problem: Wo sollte er nun Arbeit finden? Weil er ein Faible für Fotografie hatte, erkundigte er sich bei der staatlichen Werbe- und Anzeigenagentur. Eine private Agentur gab es schließlich nicht. Die Leiterin war zunächst angetan, wollte nur noch seine Personalien prüfen. Ein paar Tage später rief sie ihm schon von weitem zu, er solle abhauen.

"Vor der Flinte wegzukommen"

Eine Unverschämtheit sei das, dass er sich bei ihr überhaupt blicken lasse. Reinicke fing letztlich als Lagerarbeiter in dem Metallbaubetrieb an, in dem auch seine Frau arbeitete - und immer wieder beim Lagerleiter vorgesprochen hatte. Schikanen aber musste er weiter ertragen. Auch bei der LPG, bei der er später arbeitete, sprachen die früheren Kollegen vor. Doch der Betriebsleiter sagte ihnen, "den Reinicke schmeiß ich nur raus, wenn ihr mir jemanden schickt, der genauso tüchtig ist". Dann war die Sache erledigt. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen war Reinicke kurz zuvor aufs Dorf gezogen, um, wie er sagt, "denen vor der Flinte wegzukommen." In dem Haus, zwischen Pferdekoppel, Acker und Knüppeldamm, wohnt er noch immer. Er nennt es sein "Exil", obwohl diejenigen, denen er sich einst entzog, schon lange nichts mehr zu sagen haben.

Das Büchlein, in dem er seine Arbeit auf der Postkontrolle dokumentiert hat, ist auch einem Rostocker Verein für ehemalige Stasi-Mitarbeiter in die Hände gekommen. So etwas macht man nicht, sollen sie gesagt haben. Die meisten ehemaligen Stasi-Mitarbeiter verbieten sich eine kritische Haltung. "Die fahren weiter auf ihrem toten Gleis. Wer aussteigt, verliert den Anschluss. Und mittlerweile ist das sicher auch ganz bequem", sagt Reinicke. "Für beide Seiten."

Er glaube nicht, dass die, die die Klappe halten, besser damit leben. "In denen rumort es doch genauso wie in den Opfern." Auf Veranstaltungen spürt er bei denen, die bespitzelt wurden, eine enorme Erleichterung, wenn die Staatssicherheit ein Gesicht bekommt. Sein Gesicht. Bei ihm können sie ihre Wut, ihre Ohnmacht abladen. Nur so, glaubt er, münde die Wut nicht in dumpfen Hass. "Eben nicht nach dem Motto: Alle lynchen, wird schon der Richtige dabei sein."

Reinicke traf nie eine Person, deren Fall er einst bei der Stasi bearbeitet hatte. Aber er wünschte es sich manchmal. Kurz nach der Wende lernte er immerhin einmal eine Frau kennen, die er aus den Akten kannte. Im Scherz sagte er ihr, dass er wisse, wo sie wohne. Da entgegnete sie ihm, dass sie stets nur Verachtung übrig gehabt habe für diese armen grauen Kreaturen, die hinter ihr her geschnüffelt hätten, weil sie sich selbst nicht trauten, in die Welt hinauszugehen. Sieh mal an, dachte Reinicke da, die haben sich gar nicht alle vom DDR-Staat einschüchtern lassen. Offenbar hatten weitaus mehr Menschen die Kraft, sich der Diktatur entgegenzustemmen, als er angenommen hatte.

© SZ vom 24.12.2009/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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