Europäische Union:Die Stimme der Gehörlosen

Lesezeit: 1 Min.

Die Belgierin Helga Stevens ist Mitglied der Nieuw-Vlaamse-Allantie, die eine Unabhängigkeit von Flandern anstrebt. Seit 2014 ist die 48-Jährige Abgeordnete im Europaparlament, dessen Präsidentin sie nun werden möchte. (Foto: Francois Lenoir/Reuters)

Die gehörlose Helga Stevens kandidiert als Präsidentin des EU-Parlaments.

Von Markus Mayr, Brüssel

Mit dem Slogan "Jede Stimme zählt" Wahlkampf zu machen, ist eigentlich nicht sonderlich originell. Zu oft haben Politiker diesen Ausdruck schon verwendet, der doch nur die Selbstverständlichkeit wiedergibt, dass jeder Einzelne gehört werden soll. Helga Stevens jedoch verleiht dem abgedroschenen Satz eine besondere Note: Sie ist taub. Gehört und verstanden zu werden ist für die 48 Jahre alte Belgierin eben keine Selbstverständlichkeit. "Ich weiß heute immer noch nicht, wie ich die Schulzeit überstanden habe", sagt Stevens. Sie hatte damals keine Übersetzer, die ihr das Gesprochene in Gebärdensprache übersetzten. Die Vizechefin der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) will sich am Dienstag von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu deren Präsidentin wählen lassen.

Sie sei bereit, den amtierenden Präsidenten Martin Schulz, einen Sozialdemokraten, vom Thron zu stoßen, heißt es auf ihrer Webseite. Dabei wird das nicht nötig sein, denn Schulz wird den Thron freiwillig verlassen, um in die Bundespolitik zurückzukehren. Dennoch gibt sich Stevens kämpferisch, Gehörlosen in Europa die gleichen Chancen wie Hörenden zu bieten. In der EU werden offiziell 24 verschiedene Sprachen gesprochen, zudem gibt es 31 unterschiedliche Gebärdensprachen. Für die ECR will Stevens Europa dezentraler machen, Macht aus Brüssel an die Mitgliedsländer zurückgeben.

Stevens Chancen auf das Präsidentenamt sind mäßig. Die ECR-Fraktion liegt, was die Zahl ihrer Mitglieder angeht, weit hinter den Christ- und den Sozialdemokraten. Deren Kandidaten Antonio Tajani und Gianni Pitella sowie der Liberale Guy Verhofstadt gelten als aussichtsreichere Anwärter auf den Vorsitz der direkt von den EU-Bürgern gewählten Kammer. Stevens Karriere ist dennoch beachtlich: Als erste gehörlose Flamin schloss sie 1993 ihr Jurastudium erfolgreich ab und arbeitete als Anwältin. 2004 wählten die Flamen sie in ihr Regionalparlament, 2007 wurde sie Mitglied des belgischen Senats. Dieses Doppelmandat hielt sie, bis sie 2014 ins EU-Parlament wechselte.

© SZ vom 16.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: