Europa und die Türkei:Minimales Vertrauen

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Was kommt als Nächstes? In der EU gilt Recep Tayyip Erdoğan vielen als unberechenbar. (Foto: PRESIDENTIAL PRESS OFFICE/via REUTERS)

Trotz seiner neuesten Charmeoffensive sieht man Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Brüssel sehr skeptisch. Eine weitere Zusammenarbeit bei der Migration aber könnte das Verhältnis verbessern.

Von Matthias Kolb

Wer klare und einfache Sprache schätzt, hat es nicht leicht in der EU-Politik. Wenn sich 27 Regierungen einigen müssen, führt das leicht zu einer Ansammlung von Schlagwörtern, Appellen und Absichtserklärungen. Allerdings gibt es im Brüsseler Jargon auch schöne Ausdrücke wie "rendez-vous clause". Wenn bei einem brisanten Thema keine Einigung zu finden ist, wird es vertagt. Weil dieser Termin schriftlich fixiert wird, entfaltet die Klausel eine gewisse Wirksamkeit: Der Druck bleibt erhalten.

Dieser Kniff mit dem späteren Rendezvous wird von den Staats- und Regierungschefs derzeit vor allem im Streit über den Umgang mit der Türkei benutzt, er passt zum "facettenreichen" Verhältnis, wie es oft heißt. "Alles hängt mit allem zusammen", seufzt ein EU-Diplomat: Kooperation in Migrationsfragen lasse sich schwer trennen von türkischen Militäreinsätzen in Libyen oder Syrien. Emotionen spielen nicht nur eine Rolle, weil Präsident Recep Tayyip Erdoğan enorm polarisiert und dem Franzosen Emmanuel Macron schon mal eine "psychiatrische Behandlung" empfiehlt.

Einst gab es Hoffnung, jetzt herrscht Frust

Es herrscht auch Frust, weil es einst Hoffnung gab. 2005 begannen die Beitrittsgespräche mit der Türkei, die sich unter Premierminister Erdoğan modernisierte. Nun geht dieser als autokratischer Präsident hart gegen Opposition und freie Medien vor. Weil türkische Schiffe im östlichen Mittelmeer auch in Gebieten nach Erdgas suchen, die von Zypern und Griechenland beansprucht werden, kam es im Sommer fast zur militärischen Eskalation zwischen der Türkei und Griechenland, die beide zur Nato gehören. Von den EU-Partnern verlangen Athen und Nikosia nicht nur Solidarität, sondern Sanktionen gegen Ankara, die wirklich wehtun.

Anfang Oktober wurden beim EU-Gipfel zwar Strafen gegen Manager eines türkischen Energiekonzerns beschlossen, aber man versprach Zypern und Griechenland, dass im Dezember alle der EU "zur Verfügung stehenden Instrumente" genutzt würden. Sprich: Sanktionen sollten kommen, wenn die Türkei weiter provoziert und nicht auf die angebotene "positive politische Agenda" eingeht. Sie enthält viel, was im März 2016 im Flüchtlingspakt beschlossen wurde: Neben der von der EU bezahlten Versorgung von syrischen Flüchtlingen in der Türkei durch Hilfsorganisationen geht es etwa um Verbesserungen der seit 1963 bestehenden Zollunion.

Im Herbst ignorierte Erdoğan die Appelle zur Mäßigung, weshalb die Autorität von Bundeskanzlerin Angela Merkel nötig war, Mitte Dezember ein weiteres Rendezvous anzusetzen. Beim Gipfel im März muss der EU-Außenbeauftragte nun über den "aktuellen Stand der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen" berichten. Josep Borrell soll schriftlich skizzieren, welche Folgen Sanktionen gegen den türkischen Banken- und Energiesektor hätten.

Niemand sehe bessere Alternativen zum Abkommen, sagen Diplomaten

Diese Drohung, gepaart mit der Wirtschaftskrise zu Hause und der Abwahl von Donald Trump, hat Erdoğan nun bewogen, nach Neujahr eine Charmeoffensive zu starten. In Brüssel und vielen Hauptstädten ist man "vorsichtig optimistisch", denn das Vertrauen gegenüber Ankara ist minimal. Es brauche belastbare Schritte, um den Konflikt mit Griechen und Zyprern zu entschärfen, sagen Diplomaten. Man könne nicht binnen Wochen von breit angelegten Sanktionen darauf umschwenken, die Wünsche der Türkei nach einer Aufhebung der Visapflicht zu erfüllen. Dies käme bei vielen in Deutschland und Frankreich schlecht an, wo bald gewählt wird. Insidern zufolge wäre mehr Geld für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei über 2022 hinaus weniger heikel. Niemand sehe bessere Alternativen.

Ein Faktor ist auch das Europaparlament, in dem viele ein Ende der Beitrittsgespräche fordern. Dies lehnt Sergey Lagodinsky, der Chef der EU-Türkei-Delegation, ab, um weiter der Zivilgesellschaft helfen zu können. Während die Wut über Erdoğans Aktionen im östlichen Mittelmeer die Debatten bestimme, finde die Versorgung der Flüchtlinge kaum Beachtung. "Es gibt keine Indizien, dass die Gelder systematisch falsch eingesetzt oder gar bei Erdoğan landen würden, wie Rechte behaupten", sagt der Grüne. Er kritisiert, dass die Europäer nicht ernsthaft an konkreten, asylgerechten Reformen arbeiteten. Die Asylreform steckt fest - das von Innenminister Horst Seehofer genannte Ziel, während der deutschen Ratspräsidentschaft eine politische Einigung zu erzielen, wurde nicht erfüllt. Diplomaten sagen, man sei Jahre vom Durchbruch entfernt.

Auch deswegen spielt das Thema keine Rolle beim EU-Gipfel im März. Über die Türkei aber dürften die Staats- und Regierungschefs wieder Stunden diskutieren, und auch wenn Ankara kooperativ bleibt, dürften Griechen, Zyprer oder Franzosen auf der nächsten "rendez-vous clause" bestehen. Der Druck soll bleiben - gegenüber Erdoğan und den Partnern.

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