Europa:Schlagkraft statt Schlagbäume

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Die Reisefreiheit in der EU - einer der wichtigsten Erfolge der europäischen Einigung - wird angesichts von Terrorismus und Migration angezweifelt. Doch die Flucht zurück in den abgeschotteten Nationalstaat wäre fatal. Schengen muss gestärkt werden.

Von Stefan Ulrich

Im August des Jahres 1950 rückten Hunderte Menschen auf den deutsch-französischen Grenzübergang zwischen Bobenthal und Wissembourg vor. Sie stürzten sich unter den Augen der Zöllner auf die Grenzanlagen, rissen die Schlagbäume nieder, zersägten sie und zündeten sie an. Die jungen Leute waren keine Rabauken, sondern Europa-Enthusiasten. Sie wollten für ein grenzenloses Europa demonstrieren.

Aus dem Spiel ohne Grenzen ist Ernst geworden. Heute leben die Bürger von 22 EU-Staaten und vier weiteren europäischen Ländern im Schengen-Raum zusammen. Sie können von Sizilien nach Lappland oder von Warschau nach Valencia reisen, ohne an den Grenzen kontrolliert zu werden und einen Pass vorzeigen zu müssen. Oft bemerken sie die Grenzübergänge kaum mehr. Bei allem Klagen über Eurokraten schätzen die meisten Bürger dieses grenzenlose Reisen sehr. Es zeigt, dass es vorangeht mit Europa und dass dessen Einigung mehr ist als eine Kopfgeburt bürgerferner Eliten.

Im Schengen-Raum können die Europäer erleben, dass sie mehr eint als trennt. Diese Erfahrung ist viel wichtiger als der Zeitgewinn durch den Wegfall der Kontrollen. Denn sie zeigt, dass der früher durch scharf bewachte Grenzen zerrissene Kontinent auf dem Weg zur Einheit ist. Deswegen wäre es ein so übles Signal, wenn Schengen jetzt scheiterte. Falls die Grenzzäune wieder hoch und die Schlagbäume wieder runtergehen in Europa, signalisiert das: Es geht zurück in die alte Welt sich abschottenderer Nationalstaaten.

Schengen ist in Gefahr, weil Europa in Angst ist. Einerseits davor, dass zu viele Flüchtlinge unkontrolliert einwandern; andererseits, dass Terroristen ungehindert in EU-Staaten einreisen. In stürmischen Zeiten verschließt man gern Fenster und Türen und igelt sich ein. Das gilt für den Einzelnen wie für ganze Völker. Für Europa aber ist dieser Reflex zerstörerisch. Und falls die EU zerstört wird, werden noch viel heftigere Stürme kommen.

Neonationalen Politikern in vielen EU-Staaten ist der freie Schengen-Raum ein Graus. Er widerspricht ihrer Vorstellung vom starken, möglichst autarken Nationalstaat, wie ihn der französische Front National wünscht. Die starke Einwanderung führt solchen Parteien Wähler zu. Die Terrorwelle tut das auch. Und die demagogische Verknüpfung beider Phänomene, die mancher betreibt, verstärkt alles noch.

Doch nicht nur extreme Kräfte attackieren den Schengen-Raum. Die niederländische Regierung liebäugelt zum Beispiel mit einem Mini-Schengen aus nur noch ein paar Staaten. Der sozialistische französische Premier Manuel Valls warnt die EU-Partner, wenn Europa nicht seiner Verantwortung bei der Sicherung der Außengrenzen gerecht werde, stelle Frankreich das ganze Schengen-System infrage.

Richtig ist, dass im Schengen-Raum einiges schiefläuft. Zum Beispiel, weil Außengrenzen nicht wirksam kontrolliert und Flüchtlinge nicht registriert werden. Oder, weil Daten von Terrorverdächtigen nicht rasch genug zwischen den Staaten ausgetauscht werden. Nur: Ein System wird nicht dadurch besser, dass man es zerstört. Man sollte es reformieren. Ein international agierender Feind wie die Terrormiliz Islamischer Staat lässt sich nicht durch Rückzug in den Nationalstaat bekämpfen. Das Schengen-System mit seiner gemeinsamen Fahndungsdatenbank, die auch die europäischen Behörden Europol und Eurojust nutzen, ist viel besser geeignet, den Terror abzuwehren. Allerdings muss Schengen-Land verbessert werden. Europa braucht nicht mehr Schlagbäume, sondern mehr Schlagkraft.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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