Europa:Möglichst viel für mich

Lesezeit: 3 min

Die Einigung mit London zeigt, wie sehr die EU zu einem Klub von Egoisten verkommen ist. Rechtfertigen lässt sich der Deal nur, weil ein Austritt der Briten derzeit tödlich für die Gemeinschaft sein könnte.

Von Stefan Ulrich

Das Versprechen ist groß: Es gibt ein Heilmittel, das binnen weniger Jahre Europa frei und glücklich machen kann. "Wir müssen die Vereinigten Staaten von Europa schaffen."

Die Forderung stammt nicht von den üblichen Europa-Enthusiasten - von Jean Monnet oder Helmut Kohl, Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker - sondern von dem britischen Staatsmann Winston Churchill. Er erhob sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Rede an die Jugend in Zürich. 70 Jahre später hat der britische Politiker David Cameron nun beim Gipfel der Europäischen Union in Brüssel seine Vision Europas erläutert. Sie lautet: "Die EU ist ein Werkzeug, das wir benutzen können, um die Macht unseres Landes in der Welt zu fördern und britische Interessen voranzubringen."

Churchill ist tot. Cameron ist Premier in London.

Europa kann sich die Anführer seiner Mitgliedsländer nicht aussuchen. Es muss sich mit denen arrangieren, die die nationalen Wähler als Staats- und Regierungschefs zu den Gipfeltreffen nach Brüssel schicken. In diesem Fall ist das Cameron. Er hat gerade der EU Zugeständnisse abgepresst. Er drohte mit dem Austritt seines Landes und erzwang so Extrawürste für die Briten.

Der Deal mit Cameron ist richtig - und deprimierend

Großbritannien muss sich nun nicht mehr an das noble Ziel des EU-Vertrages halten, eine immer engere Union der Völker Europas zu schaffen. Es darf sich Rosinen aus dem Kuchen herauspicken, während die anderen 27 Mitgliedstaaten auch den Rest essen müssen. Das ist unverschämt, das ist ungerecht, und das widerspricht einer grandiosen Errungenschaft britischer Kultur - der Fairness. War es also falsch, dass sich die anderen auf den Deal mit Cameron eingelassen haben?

Es war richtig, auch wenn es für einen überzeugten Europäer schwer sein mag, das einzusehen. Denn bei diesem Gipfel galt es zu retten, was zu retten war. Die EU schwebt in Lebensgefahr. Von außen und von innen versuchen zerstörerische Kräfte, dieses einzigartige Projekt der europäischen, ja der Weltgeschichte zum Scheitern zu bringen. Die Finanzkrise mitsamt der elendig hohen Arbeitslosigkeit in zu vielen EU-Staaten, das Chaos im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise, das Erstarken neonationalistischer Parteien und die Zersetzungsversuche des russischen Präsidenten Wladimir Putin treiben Europa in die Agonie. Ein Abgang Großbritanniens in diesem Moment könnte tödliche Folgen haben. Nur deshalb konnte die britische Regierung so hoch pokern, so brutal erpressen. Deshalb mussten François Hollande, Angela Merkel und 25 andere Staats- und Regierungschefs nachgeben.

Der "Kompromiss" von Brüssel ist notwendig. Aber er ist nicht gut. Er zeigt, in welch beklagenswertem Zustand sich Europa befindet. Die EU, die einen Raum der Freiheit, des Wohlstands und der Sicherheit schaffen wollte, ist zu einem System gegenseitiger Zumutungen verkommen. Fast alle Mitglieder wollen nur noch möglichst viel für sich herausschlagen. Kaum einer fragt mehr, was er zur gemeinsamen Sache beitragen kann.

Schuld daran tragen keineswegs nur die Briten. Viele Mittel- und Osteuropäer, zum Beispiel die Anhänger der derzeitigen Regierungen in Ungarn und Polen, pochen auf Milliarden an europäischen Zuwendungen, verweigern aber jegliche Solidarität, wenn es darum geht, die Flüchtlingsnot zu bewältigen. Viele Griechen oder Italiener sehen nur die strengen deutschen Haushaltswächter, übersehen jedoch die jahrelange Misswirtschaft der Politiker in Athen und Rom, die sie selbst immer wieder wählten. Viele Deutsche profitieren vom riesigen Absatzmarkt Europa, scheren sich jedoch nicht um das Leben von Millionen arbeitsloser junger Frauen und Männer in Europas Süden.

Europa ist zu einem Club dumpfdreister Egoisten verkommen. Dabei bräuchten die Europäer so sehr eine starke EU. Denn ihre Idee der offenen, demokratischen, liberalen Gesellschaften gewinnt nicht mehr an Terrain - sie verliert an Boden. Die neuen Autokratien in Russland und der Türkei sind dafür Beispiele. "Starke Männer" wie Putin oder Recep Tayyip Erdoğan faszinieren immer mehr Menschen. Tyrannen wie der Syrer Baschar al-Assad verwüsten die europäischen Nachbarregionen. Und die USA sind immer weniger dazu bereit, ihre schützende Hand über Europa zu halten. Das ist nicht ganz unverständlich. Schließlich hatten die Europäer genügend Zeit, erwachsen zu werden und für sich selbst zu sorgen.

Winston Churchill wäre konsterniert, wenn er erleben müsste, wie heute mit seinen Hoffnungen umgegangen wird. Dabei war Churchill als Brite gar kein Paneuropäer. Er empfahl seinen Landsleuten nur, sie sollten "ein Freund und Förderer des neuen Europas sein".

© SZ vom 22.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: