Europa:Kühne Idee

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Finanzminister Scholz denkt über eine europäische Arbeitslosenversicherung nach. Wie daraus ein Erfolg werden könnte.

Von Cerstin Gammelin

Geht es um Entwicklungen in der EU, so gibt es viele, die stets schon vorher wissen, was später rauskommen wird. Nämlich nichts Lebensnahes für die Bürger, sondern technokratische Regeln. Den Schriftsteller Robert Menasse hat diese Ignoranz so aufgeregt, dass er viel Geist und Mühe investierte, um das Vorurteil durch einen Roman über den europäischen Kosmos zu widerlegen. Es gelang. Sein Buch "Die Hauptstadt" wird gelesen, sammelt Preise ein. In die Kategorie "kühne Idee" fällt nun auch ein Vorstoß des Bundesfinanzministers. Olaf Scholz denkt über eine europäische Arbeitslosenversicherung nach. Auch wenn manche jetzt schon meinen, dass er es mit seinem Vorhaben kaum so weit bringt wie Menasse mit seinem Buch - wünschenswert wäre es.

Europa braucht in diesen schwierigen Zeiten mehr denn je verständliche Konzepte und einleuchtende Erzählungen. Lange genug haben die Menschen von Portugal bis Zypern und von Italien bis Schweden davon gehört, dass die Gemeinschaft alternativlos sei. Warum das so sein sollte, blieb allerdings weitgehend im Dunkeln. Es wurde viel geredet, aber vor allem in unverständlichen Begriffen. Wer kann sich über den "Backstop" freuen oder eine "fiskalische Fazilität", wenn er nicht weiß, was das ist? Gleiches gilt für Abkürzungen wie ESM, EWF, SMP.

Den Regierungen in allen europäischen Staaten, auch in Deutschland, ist vorzuwerfen, dass sie sich jahrelang wenig Mühe gegeben haben, europäische Angelegenheiten in die Alltagssprache zu übersetzen. Die Entfremdung der Bürger vom Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, hat viel damit zu tun, dass man in Katalonien, Südtirol, Hessen oder Jütland schlicht nicht weiß, über was die Regierungen in Brüssel so verhandeln. Dass etwa ein Backstop dafür sorgt, dass Spareinlagen sicherer werden.

Aus kommunikativer Sicht ist der Vorschlag von Scholz da ein Fortschritt. Man versteht, dass er europaweit ein soziales Netz knüpfen will, das bei plötzlichen Krisen in einzelnen Ländern die Menschen davor bewahren soll, ohne Job und Einkommen dazustehen. Es soll den Bürgern also nicht mehr so ergehen wie vor zehn Jahren in Irland und Spanien, als die Immobilienblasen platzten. Die Krise erfasste damals Bauunternehmen, Banken, die ganze Wirtschaft. Millionen verloren Arbeitsplätze und Ersparnisse, Regierungen stürzten. Die Folgen wären milder gewesen, hätte es den Geldtopf gegeben.

Zugegeben: Es wird sehr kompliziert, darüber zu entscheiden, wer das Netz knüpfen soll und wie eng die Maschen werden. Der Sozialdemokrat Scholz selbst schätzt sein Vorhaben zu Recht als sehr schwierig ein. Daher hat er seinen Vorschlag weniger wie einen Roman als wie eine kurze Einleitung formuliert. Außerdem will er das Geld, das einzelne Staaten in Krisen bekommen sollen, um ihre Sozialversicherungssysteme zu stabilisieren, als Kredite ausgeben.

Das freilich ist zu wenig ambitioniert. Klug wäre es, über die Alternative einer klassischen Versicherung nachzudenken. Einfach ausgedrückt: Wer sein Fahrrad vorschriftsmäßig abschließt, es aber trotzdem gestohlen bekommt, erhält - abzüglich eines Selbstbehalts - finanziellen Ersatz. Passiert es wiederholt, steigt die Prämie. Das Prinzip ist einfach und alltagstauglich. Vielleicht könnte daraus eine lebensnahe neue Erzählung entstehen, was Europa für die Menschen tut.

© SZ vom 15.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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