Europa:Bewegt euch

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Emmanuel Macron streckt seit Monaten die Hand Richtung Deutschland aus. Irgendwann wird es zu spät sein, sie zu ergreifen. Wenigstens in Aachen haben sie das erkannt: Der französische Präsident erhält den Karlspreis.

Von Stefan Ulrich

Emmanuel Macron hat lange auf eine Antwort aus Deutschland gewartet. Nun ist sie gekommen. Allerdings nicht aus Berlin, sondern aus Aachen, der Stadt Karls des Großen, des "Vaters Europas". Die deutsche Grenzstadt zeichnet den französischen Präsidenten mit dem Karlspreis aus. Selten hat es einen geeigneteren Preisträger gegeben. Macron hat die Würdigung nicht nur verdient - er braucht sie auch: um auf seinem Weg voranzukommen, die Europäische Union zu retten, indem er sie stärkt. Dies kann ein Macron nicht allein. Er benötigt viele Verbündete, in seinem Heimatland wie im Ausland.

Den Franzosen hat der politische Senkrechtstarter im Wahlkampf ein Versprechen gemacht: Er wird das geschwächte, übellaunige, zwischen Nostalgie und Resignation schwankende Frankreich wieder stark machen, wenn sich die Bürger auf seine Reformen einlassen. Für die Wähler war das kein einfaches Angebot. Macron verlangt ihnen den Verzicht auf vieles ab, was sie als Errungenschaften der Revolutionsrepublik begreifen: die 35-Stunden-Woche, einen imposanten Kündigungsschutz, den - auch in der Wirtschaft - omnipräsenten und spendablen Staat oder eine besonders deftige Besteuerung von Reichen und Unternehmen. Macron fordert nicht weniger als eine gewisse Anpassung der Franzosen an den angelsächsisch geprägten Globalkapitalismus. Das ist für das Selbstverständnis dieser Nation ein starkes Stück.

Macron streckt die Hand aus - Berlin muss endlich einschlagen

Andererseits denkt Frankreich nüchterner, als es seine flamboyante Rhetorik vermuten lässt. Die Bürger wissen, dass ihr Land wirtschaftlich und politisch zurückgefallen ist. Viele empfanden die Jahre unter den Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande als erniedrigend, weil Europapolitik weit mehr in Berlin als in Paris gestaltet wurde und Frankreich international als kranker Teil der EU wahrgenommen wurde. Frankreich, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg als erste Macht Europas gefühlt hat! Daher waren viele bereit, Macrons Kur zu akzeptieren.

Dann hat der neue Präsident in verblüffender Geschwindigkeit seine Pläne umgesetzt. Vergangene Woche etwa billigte das Parlament seine Arbeitsmarktreform, die etliche Beobachter für undurchsetzbar hielten. Bis sich die neuen Gesetze jedoch in einem breiten Aufschwung und vor allem in wesentlich mehr Jobs niederschlagen, könnten noch Jahre vergehen. In der Zwischenzeit muss Macron seinen Wählern mehr bieten als Hoffnung: neuen Einfluss in Europa.

Das heißt nicht, dass der Präsident sich lediglich aus innenpolitischem Kalkül für die Europäische Union engagiert. Seine Bekenntnisse zur Einheit des Kontinents sind überzeugend, zumal er sie mit vielen konkreten Vorschlägen unterfüttert. Macron ist der erste große Europäer im Élysée-Palast seit François Mitterrand. Gleichzeitig braucht er dieses Europa, um sich im Palast zu halten. Und Europa hat alles Interesse daran, dass er das noch lange tut. Denn die Alternativen, welche die radikale französische Linke und Rechte sowie nun auch die konservativen Republikaner anbieten, wären ein Desaster für die gesamte EU.

Doch was tut Berlin, das so lange über Frankreichs Schwäche klagte? Statt Macron mit offenen Armen zu empfangen, um mit ihm über die künftige EU zu diskutieren und auch zu streiten, wimmelt es ihn ab, vertröstet ihn oder schweigt. Die Zukunft Europas hat im Bundestagswahlkampf eine viel geringere Rolle gespielt als die vergleichsweise zweitrangigen Fragen einer Flüchtlingsobergrenze oder einer Bürgerversicherung. Weder die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch ihr Herausforderer Martin Schulz (SPD) haben eine Pro-Europa-Kampagne geführt, wie sie Macron mit seiner Bewegung En Marche erfolgreich vorgemacht hatte. Die Folge: Im deutschen Bundestag sitzen mehr Nationalisten und Europaskeptiker denn je; und zwar nicht nur in der AfD, sondern auch in den ehemaligen Europaparteien CSU und FDP.

Jetzt hat Martin Schulz Europa endlich ins Zentrum der Koalitionsverhandlungen gestellt. Er fordert, bis 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, notfalls auch ohne solche EU-Länder, die in Wahrheit gegen Europa arbeiten. Der Zeitrahmen des SPD-Vorsitzenden ist unrealistisch. Doch sein Ziel ist richtig. Denn nur ein europäischer Bundesstaat - der seinen Nationen viel Eigenständigkeit belässt - kann erreichen, dass Franzosen, Deutsche, Polen oder Portugiesen ihre Souveränität gegenüber Trump, China oder Amazon bewahren.

Emmanuel Macron streckt seit Monaten die Hand Richtung Deutschland aus. Irgendwann wird es zu spät sein, sie zu ergreifen. Wenigstens in Aachen haben sie das erkannt.

© SZ vom 11.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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