Essen:Stadt des steten Wandels

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Die Stadt Essen ist nicht nur Sitz großer Konzerne, sondern inzwischen auch eine sehr grüne Stadt, wie der sogenannte Krupp-Gürtel zeigt. (Foto: Roland Weihrauch/dpa)

Erst der Niedergang des Stahls, jetzt die Umwälzungen der Energiewende: Essen muss sich neu erfinden - und ist erstaunlich erfolgreich.

Von Bernd Dörries, Essen

Es klingt alles ganz wunderbar, nach einem Stück Idylle mitten im Ruhrgebiet. Der Mühlenbach fließt durch das Walpurgistal, wo früher einmal Mühlen standen, sich eine schöne Auenlandschaft schlängelte. Heute ist der Mühlenbach ein schnurgerades Gewässer, ein Abwasserkanal in offener Bauweise, wie es in der Fachsprache heißt. Im Volksmund wird er Köttelbeck genannt, weil man oft gut erkennen kann, was da so aus den Toiletten der Umgebung ankommt. Man kann es auch einen fließenden Strukturwandel nennen.

Jahrzehntelang konnte man im Ruhrgebiet keine unterirdischen Abwasserkanäle bauen, weil der Bergbau die Gegend an so vielen Stellen durchlöchert hatte, sich der Boden senkte. Also wurden die Abwässer oberirdisch abgeleitet und werden es bis heute. Der Mühlenbach fließt durch die beliebtesten Stadtteile in Essen, für welche die Bezirksregierung jetzt einen Baustopp angedroht hat, weil die Abwasserfrage bis heute nur ungenügend gelöst ist. Es klingt wie ein Problem, das man eher in anderen Teilen der Welt vermuten würde.

Innerhalb von vierzig Jahren verlor die Stadt ein Drittel seiner Einwohner

Seit einiger Zeit wird nun gerodet und gebaggert am Mühlenbach, versucht die Stadt den Köttelbeck unter die Erde zu legen. Eine schöne Auenlandschaft soll entstehen, in welche die Menschen gerne ziehen, in der neue Wohngebiete entstehen. Essen will wachsen, um nicht mehr zu schrumpfen.

Die Stadt hat in den vergangenen vier Jahrzehnten fast 200 000 Einwohner verloren, rutschte zwischenzeitlich aus der Rangliste der zehn größten Städte Deutschlands. Seit zwei Jahren aber wächst Essen wieder. Es ist ein ziemlicher Erfolg, den man über Jahre nicht für möglich gehalten hatte. "Es gibt einen guten Trend", sagt Oberbürgermeister Reinhard Paß (SPD). Wenn Paß in Deutschland unterwegs ist, dann passiert es ihm oft, dass ihn die Leute etwas mitleidig anschauen, wenn es um seine Stadt geht. Essen, das klingt in weiten Teilen der Republik immer noch nach Hartz-IV-Land. "Viele Städte müssen Sie nicht erklären, Essen schon", sagt Paß. Zu Freiburg falle einem das schöne Wetter ein und zu München das Oktoberfest.

Aber zu Essen?

Oft nur der Niedergang von Stahl und Kohle. Gerade rollt der nächste Strukturwandel über die Stadt: Die Energiewende bringt die großen Energiekonzerne in Bedrängnis. RWE und Eon-Ruhrgas haben ihre Zentralen in Essen, große Türme in der Innenstadt, in denen aber immer weniger Leute arbeiten. Anders als die Kumpel in den Achtzigerjahren stünden die Leute aber nicht auf der Straße. "Sie werden vom Arbeitsmarkt aufgesogen", sagt Paß. Die Arbeitslosigkeit in Essen ist mit 12,5 Prozent immer noch hoch, aber gut qualifizierte Leute werden gesucht. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs ist in den vergangenen zehn Jahren um zehn Prozent gestiegen. Das hört sich alles nicht schlecht an, so, als könnte Paß in aller Ruhe den Wahlkampf vorbereiten, weil ja im Herbst der Oberbürgermeister gewählt wird.

Paß hat aber die vergangenen Monate damit verbracht, Wahlkampf für sich selbst zu machen. Die Essener SPD-Chefin Britta Altenkamp hatte vergangenen Sommer gesagt, Paß sei für "den OB-Posten die falsche Person". Altenkamp musste vor Jahren bereits vom Posten der Fraktionsgeschäftsführerin im Landtag zurücktreten, weil sie den Überblick verloren hatte. Dass man sie in Essen trotzdem zur Parteichefin machte, sagt einiges aus über die Führungsreserve der SPD. Letztlich hatte Paß nur jene Vorgaben erfüllt, welche die SPD-geführte Landesregierung beschlossen hatte. Nämlich: sparen, den Haushalt konsolidieren. Essen hat mehr als drei Milliarden Euro Schulden, zahlt jeden Tag 200 000 Euro Zinsen. Dennoch war die Politik lange der Meinung, man müsse sich auch mal etwas gönnen: Die Messe wurde ausgebaut, obwohl es in Düsseldorf und Köln sehr starke Konkurrenz gab. Der Traditionsklub Rot-Weiß bekam ein neues Stadion, obwohl der Verein am Abgrund steht. Es war, als wolle man mit aller Macht an die gute alte Zeit anknüpfen, als Rot-Weiß noch in der ersten Liga spielte und Essen 27 Zechen hatte.

Dabei ist die Gegenwart gar nicht so düster, Essen steigerte sein Bruttosozialprodukt in den vergangenen Jahren stärker als Köln und München, beherbergt die Konzernzentralen von Thyssen-Krupp, Kaufhof, Evonik, RWE und Hochtief, deren Bauten in der Innenstadt eine kleine Skyline bilden. Die aber auch immer wieder in die Krise geraten, woran man sich in Essen bereits gewöhnt hat. Derzeit wird mal wieder darüber debattiert, ob sich Thyssen-Krupp ganz vom Stahl trennen sollte. Eine Diskussion, die in Essen erstaunlich wenig Angst auslöst, was vielleicht ein gutes Zeichen ist. Thyssen-Krupp wurde seit dem Krieg auch schon oft für Tod erklärt und lebt immer noch, macht seit Kurzem auch im Stahlsektor wieder Gewinne. Vor einigen Jahren ist der Konzern nach Essen zurückgekehrt, in eine ziemlich beeindruckende Zentrale mit einem schönen Park drumherum. So soll ein ganzes Quartier aufgewertet werden, was auch zulasten der Folklore geht. Das berühmte Büdchen aus dem "Manta, Manta"-Film wurde abgerissen, ein künstlicher See mit neuen Wohnungen gebaut. Es ist also einiges passiert. Der Oberbürgermeister sagt, man sei nicht mehr so abhängig von den Großkonzernen.

Essen hat sich emanzipiert von den Großkonzernen, sagt der Oberbürgermeister

"Früher haben die Menschen hier immer in Großstrukturen gelebt", sagt Paß. Sie haben ihre Krupp-Gutscheine bekommen, im Krupp-Konsum eingekauft und wurden in der Krupp-Siedlung von Krupp-Leuten besucht, die nach dem Rechten geschaut haben. "Das hat nicht besonders selbständig gemacht", sagt Paß, das wirke noch nach. Die erste Universität kam erst 1964, seitdem beginnt der Strukturwandel auch in den Köpfen. So wie sich das Bild von Essen im Rest der Republik auch langsam verbessert. Seit 2010, dem Jahr als Kulturhauptstadt, ist die Zahl der Übernachtungsgäste um 20 Prozent gestiegen.

Oberbürgermeister Paß befindet sich inzwischen wieder im Wahlkampfmodus, nachdem sich die SPD-Mitglieder nun doch für den entschieden haben, den die Parteiführung absägen wollte. Manchmal macht es sich Essen selbst ein wenig schwer. Doch der Oberbürgermeister hat in diesen Tagen nur einen Blick für die positiven Seiten seiner Stadt. Er ist ein sprechender Prospekt.

"Wir sind die drittgrünste Stadt Deutschlands", sagt Paß.

Eines der prominentesten Gesichter der Stadt ist Fernsehkoch Nelson Müller, der in Stuttgart aufgewachsen und auf Sylt gelernt hat. Als er nach Essen kam, hatte er das Schlimmste befürchtet und musste erst einmal seinen Chef anrufen, weil er glaubte, sich verfahren zu haben. "Es war so schön", sagt Müller, zu schön. Mittlerweile weiß er, dass es in Essen Orte wie den Baldeneysee und die Stadtteile drumherum gibt - und die Viertel, in denen ein Drittel der Menschen vom Staat lebt.

Müller ist in Essen geblieben, betreibt dort drei Restaurants, eines davon hat einen Michelin-Stern. Manchmal wundern sich Leute, dass er nicht nach Berlin oder Hamburg gegangen ist. "Die Stadt ist bisher unterbewertet, hat aber großes Potenzial", sagt Müller. Die Menschen seien direkter als anderswo. Das mag er. "Nur nach außen verkauft sich die Stadt noch nicht so richtig, da könnte mehr kommen." In Essen sind sie froh, dass Müller geblieben ist - einen besseren Fürsprecher könnte die Stadt kaum finden.

© SZ vom 30.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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