Erinnerungen an den März 1990:"Ich musste die Coole spielen"

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Petra Bläss leitete die erste freie Volkskammerwahl der DDR. Ein Gespräch über Tränen nach dem "Zettelziehen" und warum Demokratie Engagement braucht.

Interview von Cornelius Pollmer, Leipzig

Heute arbeitet Petra Bläss, 55, als Lehrerin in Brandenburg. In ihrem vorherigen Berufsleben zog sie in den Neunzigern für die PDS in den Deutschen Bundestag ein und wurde dort sogar zur Vizepräsidentin gewählt. Zurück geht diese Karriere auf ein politisches Urerlebnis im Jahr 1990. Petra Bläss war 25 Jahre alt und aus der SED schon ausgetreten, als sie als Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes zur Vorsitzenden der Wahlkommission bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 gewählt wurde. Ein Gespräch mit ihr, 30 Jahre danach, über diese Wahl und über Demokratie damals wie heute.

Frau Bläss, es beschäftigt uns alle gerade ganz anderes, aber wir wollen dennoch über die ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR vor 30 Jahren sprechen.

Petra Bläss: Ich war deswegen vergangene Woche noch im Bundestag zu einer Veranstaltung, es war die letzte dort überhaupt, bevor wegen des Virus alles abgesagt worden ist. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble begrüßte uns schon mit den Worten, wir gehörten als Ältere ja alle zu einer Hochrisikogruppe und da war ich noch eine der Jüngsten in der Runde...

Sie wurden im Februar 1990 zur Leiterin der ersten freien Volkskammerwahlen in der damaligen DDR bestimmt und zwar "überraschend", wie es gleich danach hieß.

Es war total überraschend. Wäre mir das einen Tag vorher gesagt worden, ich hätte wild den Kopf geschüttelt. Also, es war überraschend, aber nicht ganz zufällig. Ich bin ja kein Einzelfall, in diesen aufregenden Monaten damals hat es viele und vor allem Frauen getroffen, die auf einmal für verantwortungsvolle Position gewählt wurden.

Warum?

Das hat sehr viel damit zu tun, dass dieser Aufbruch 1989 stark von Frauen getragen wurde, etwa in der Bürgerbewegung. Eine Theorie vieler Historikerinnen lautet ja, dass in Krisensituationen und dann, wenn Machtverhältnisse noch nicht zementiert sind, Frauen öfter ans Ruder kommen, so war es ja später letztlich auch mit Angela Merkel oder Annegret Kramp-Karrenbauer. Und damals war zwischen der großen Demo im Oktober 1989 in Leipzig und der Wahl zur Volkskammer die Zeit des größten Machtvakuums, die Zeit der runden Tische - und erst nach der Wahl gab es wieder belastbare Machtverhältnisse.

Für diese Wahl also wurden Sie als Leiterin bestimmt.

Ja, und ich weiß noch, direkt nachdem ich im ersten Wahlgang gewählt worden war, hielt mir ein ZDF-Journalist sein Mikro hin und fragte, Frau Bläss, wie fühlen Sie sich so als Nachfolgerin von Egon Krenz? Der war ja bis dahin Wahlleiter gewesen.

Und, Frau Bläss, wie fühlten Sie sich als Nachfolgerin von Egon Krenz?

Das war erst einmal eine Art Schock, ich war ja nur pro forma aufgestellt und dann in geheimer Wahl bestimmt worden. Mich hatte ein Mitglied der SPD vorgeschlagen, ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Mein erster Gedanke war dann nur: Du bist hier nicht als Privatperson Petra, Du bist hier als Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR. Wir von der Basis hatten doch so gekämpft, an diesen Tisch zu kommen, unser Motto war: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen! Wir hatten Angst, dass Frauen in diesem Transformationsprozess unter die Räder kommen könnten. Da konnte ich keinen Rückzieher machen.

Wie ging es nach der Wahl zur Wahlleiterin weiter?

Gleich am nächsten Tag hatte ich die erste richtige Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum, das war dann der nächste Hammer, ich habe genau auf dem Stuhl gesessen, auf dem Schabowski vorher mit seinem Zettel gesessen und den Mauerfall verkündet hatte.

Lothar de Maizière wurde bei den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Die Aufnahme zeigt ihn am 1. April 1990 im Parlament der DDR. (Foto: Sven Simon/Sueddeutsche Zeitung Photo)

Wählen nannte man in der DDR lakonisch auch "Zettel falten", weil so viel fürs Volk eben gar nicht zu entscheiden war. Wie hatten Sie bis dahin das Wählen im Land wahrgenommen?

Als ziemlich unspektakulär, jedenfalls bis zur Kommunalwahl 1989. Deren Fälschung war eine Hauptquelle für die Proteste im Herbst 89. 1990 waren dann sehr viele neue Organisationen in der Wahlkommission, Leute, die bei der Aufdeckung der Wahlfälschung sehr aktiv gewesen waren und deswegen teilweise sogar im Gefängnis gesessen hatten. Es gab im März 1990 eine große Öffentlichkeit und sehr viel Druck, dass die Wahl transparent abläuft. Und ich selbst war doch der beste Beweis, dass das Wählen nun unter demokratischen Bedingungen ablief, ich hatte keine Funktion im alten System und war nicht vorbelastet.

Wie haben Sie selbst dann den Tag der Wahl erlebt?

Ich war schon perplex, wie wenig Zustimmung die Bürgerbewegung und die PDS bekamen. Das war ja alles noch nicht mit Handy und so, und ich weiß noch, wie ich in den Palast der Republik kam und dort die Ergebnisse aus dem Land einliefen, da war ich so geschockt. Wir saßen da zusammen und einige in der Wahlkommission haben geweint. Und ich weiß auch noch, wie einer von der CDU in der Tür lehnte und so erhaben auf uns herabblickte.

Was haben Sie da gemacht?

Mein Vorteil war, dass ich gleich weiter in die Maske musste, weil ich ja noch das Ergebnis zu verkünden hatte. Ich durfte nicht mehr heulen, ich musste die Coole spielen. Am Ende bin ich nachts 2.17 Uhr vor die Presse getreten und, nun, ich bin Theaterkind, das ging dann schon. Ich war persönlich als Linke enttäuscht, aber habe das Ergebnis ganz neutral angesagt wie einen Wetterbericht. Gregor Gysi erzählte mir später, er habe in dem Moment gedacht, entweder ist die eiskalt - oder ne gute Schauspielerin.

Aus heutiger Sicht: Was haben Sie damals über Demokratie gelernt?

Die wichtigste Erfahrung war sicher die, dass es möglich ist, über Parteigrenzen hinweg intensiv und kollegial an einer Aufgabe zu arbeiten. Und deswegen bin ich dann auch selbst in die Politik gegangen und in den Bundestag, das war ja nicht vorgezeichnet gewesen. Dieses Miteinander, das von Respekt und Engagement geprägt ist, das hatte mich schon am Runden Tisch begeistert. Dass Leute sich an demokratische Regeln halten, das war einfach eine hammer Erfahrung.

Heute ist es im Osten die AfD, die einerseits das symbolische Kapital des demokratischen Aufbruchs der damaligen Zeit für sich zu nutzen versucht - und die gleichzeitig in den Parlamenten oft ohne sachliche Interessen gegen diesen demokratischen Grundkonsens anarbeitet, den Sie beschreiben.

Als im vergangenen Herbst diese AfD-Plakate zu sehen waren, "Vollende die Wende", da war ich geschockt. Ich weiß, es gibt im digitalen Zeitalter keine Gesamtöffentlichkeit mehr, es gibt keinen wirklichen Aufschrei mehr gegen solche Vereinnahmungen. Aber...

Aber?

Aber Sorge macht mir das eben schon. Ich unterrichte heute als Lehrerin Deutsch für Geflüchtete, aber auch politische Bildung für Azubis. Ich erlebe diese junge Generation nicht als unpolitisch, aber derzeit reicht die Öffentlichkeit gegen die AfD bei uns nicht und auch nicht die gegen Verschwörungstheorien. Demokratie und ihre Spielregeln attraktiv zu machen, das ist mein Ding, daran arbeiten wir hart. Aber teilweise haben meine Schüler das erste Mal überhaupt eine Zeitung in der Hand, wenn ich eine mitbringe. Deren Informationsquellen sind ganz andere und nicht immer die verlässlichsten.

Wie sollte die Gesellschaft damit am besten umgehen?

Wir sind uns in der Analyse ja alle recht einig, aber dann? Ich weiß es auch nicht. Mehr Planspiele, mehr Möglichkeiten, zu erfahren, wie es ist, in Verantwortung zu gelangen und etwas zu erreichen. Das wäre schon was.

Erzählen Sie denn Ihren Schülern auch von sich und wie Sie das gemacht und erlebt haben?

Ich habe da schon bewusst einen Schnitt gemacht zwischen der Politik und dem Unterrichten, aber im Politikunterricht kann ich schon offen mit meiner Vergangenheit umgehen und da merke ich auch, dass ich die Schüler anders kriege. Im Modul "Freie Wahlen" haben sie auch schon mal ein Zeitzeugen-Interview mit mir vor der Klasse gemacht.

In Summe: Machen Sie sich heute mehr Sorgen um die Demokratie als damals, 1990?

Ja, aber das hat sicher auch mit Erfahrung und Alter zu tun. Ich denke, in vielem sind demokratische Strukturen im Lande stabil, das merkt man zum Glück daran, dass es zuweilen ja doch noch laute Aufschreie gibt. Aber die Sorge ist heute eine andere als vor, sagen wir, zehn Jahren. Wir sind jetzt in der Situation, in der relevante rechte Kräfte im Parlament sitzen und die Folgen davon können wir noch gar nicht abschätzen. Da hängt ja ein riesiger Rattenschwanz dran, weil diese Kräfte zurückgreifen können auf eine Menge an Geldern, auch solchen für politische Bildung. Mit Wählerschelte allein wird man da nicht weit kommen.

© SZ vom 18.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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