Erdoğan:Ein Starrkopf wird weich

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Streitobjekt: Die mit Hilfsgütern beladene "Mavi Marmara" war 2010 auf der Fahrt nach Gaza von israelischen Streitkräften geentert worden. Dabei starben zehn Menschen. Das Bild zeigt das Schiff bei der Rückkehr nach Istanbul. (Foto: Reuters)

Aussöhnung mit Israel und Russland: Der türkische Präsidenten zeigt plötzlich hemmungslosen Pragmatismus.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Der harte Mann knickt ein. Sein Volk erkennt ihn kaum wieder: Ist das wirklich Recep Tayyip Erdoğan, ihr Präsident? Erst schließt er Frieden mit Israel. Sechs Jahre lang herrschte Eiszeit zwischen beiden Ländern, nachdem israelische Soldaten 2010 das mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen beladene Schiff Mavi Marmara gestürmt hatten. Zehn Menschen kamen damals ums Leben. Mit Israel sprach man nicht mehr, allenfalls über Israel. Und dann auch nicht gut. Am Montagabend aber sagte Erdoğan auf einmal, die Aussöhnung sei im Interesse beider Länder. Ein Satz, den man von ihm an diesem Abend noch einmal hören wird. Denn auch Russland soll bald wieder ein Freund der Türken sein. Im November hatte die türkische Kampfflieger einen russischen Jet vom Himmel geholt, der ein paar Sekunden an der Grenze zu Syrien türkischen Luftraum verletzt hatte. Ein Pilot starb.

Russland reagierte mit harten Wirtschaftssanktionen. Vor allem kamen keine Touristen mehr. Entschuldigen wollte sich die türkische Regierung aber partout nicht. Die Starrköpfigkeit bescherte ihr einen neuen Feind. Bis Montag jedenfalls. Da bat Erdoğan die Hinterbliebenen um Verzeihung und drückte dem Kreml gegenüber sein "tiefes Bedauern" über den Vorfall aus. Dass Moskau daraus die lang eingeforderte Entschuldigung ableitet, kann Erdoğan nur recht sein. In Ankara erwartet man für diesen Mittwoch sogar wieder einen Telefonanruf Putins.

Das ist die schöne neue Versöhnungszeit. Sie fühlt sich nur sehr ungewohnt an. Der Hürriyet-Kolumnist Ertuğrul Özkök schrieb dazu: "Ich werde nicht fragen, warum ihr das russische Flugzeug abgeschossen habt. Ich werde auch nicht fragen, warum ihr dafür gesorgt habt, dass Millionen von Menschen im Tourismus Jobs verloren haben. Weil der heutige Tag wichtiger ist. Was ihr gestern gemacht habt, das war falsch. Aber was ihr heute tut, ist richtig." Sein Kolumnisten-Kollege Ahmet Hakan scherzt, warum bei der Gelegenheit nicht auch Frieden mit der oppositionellen Gezi-Bewegung schließen, die Regierungskritiker könnten nicht schlimmer als Israel sein. Aber das ist eine innenpolitische Baustelle. Im Moment scheinen für Erdoğan die Außenbeziehungen Vorrang zu haben.

Gerade kommt ein Wesenszug Erdoğans zum Vorschein, der bei all seiner Kraftmeierei der vergangenen Monate untergegangen war: ein mitunter hemmungsloser Pragmatismus. Soll die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet doch über die "zwei Kehrtwenden an einem Tag" staunen. Vor allem der Streit mit Russland war zum Problem geworden. Konnte Erdoğan anfangs vielleicht noch bei seinen Anhängern in der Rolle der starken Anführers punkten, der selbst die mächtigen Russen in die Schranken weist, überwogen im Laufe der vergangenen Monate immer mehr die Nachteile: Am heftigsten hat es tatsächlich den türkischen Tourismus getroffen. Um knapp 92 Prozent ging die Zahl der russischen Urlauber zurück - ein dramatischer Einbruch im Tourismus. Aber auch sicherheitspolitisch hat die Krise mit Russland die Türkei schwer mitgenommen. Nach dem Abschuss konnte Ankara seine Kampfjets im syrischen Grenzgebiet nicht mehr einsetzen, zu groß war die Sorge vor Vergeltungsmaßnahmen durch die Russen. Die Regierung musste zuschauen, wie mutmaßliche Terroristen des sogenannten Islamischen Staates von syrischer Seite aus die türkische Grenzstadt Kilis unter Beschuss nahmen. Bald kam es in der Stadt zu Demonstrationen gegen die Tatenlosigkeit. Eine sechsjährige Eiszeit, wie sie zwischen der Türkei und Israel herrschte, konnte sich die Türkei im Verhältnis zu den Russen nicht leisten. Erdoğans größter Trumpf bei seinen Anhängern war immer der wirtschaftliche Erfolg seines Landes, und den stellte der Streit mit Moskau ernsthaft in Frage.

Ankara könnte nun Zugang zu israelischen Gasvorkommen erhalten

Das Versöhnungsabkommen mit Israel, das am Dienstag unterzeichnet wurde, sieht türkische Investitionen im Gazastreifen vor. Außerdem kommt die Türkei wieder als Partner in Frage, wenn es darum geht, Israels Gasvorkommen vor der Küste zu verwerten. Etwas mehr Unabhängigkeit vom russischen Gas ist Ankara wichtig. Man hat gesehen, wie schnell sich das politische Klima wandeln kann.

Schritt für Schritt scheint Erdoğan sein Land aus der außenpolitischen Isolation herausführen zu wollen, in die sich die Türkei manövriert hatte. Unter Ex-Regierungschef Ahmet Davutoğlu, den Erdoğan im Mai aus dem Amt drängte, hieß das Motto der Außenpolitik noch: Null Probleme mit den Nachbarn. Faktisch aber gab es nur noch Streit. Vom Selbstverständnis der Türkei als regionaler Ordnungsmacht war nichts mehr zu sehen. Davutoğlus Nachfolger, Binali Yıldırım, hat einen anderen Anspruch: mehr Freunde, weniger Feinde.

Im Moment verschiebt sich etwas - aber diese Bemühungen gehen weniger auf Yıldırım zurück, sondern auf Erdoğan.

Er selbst hat sich unter Erfolgsdruck gesetzt. Er will sich per Verfassungsänderung zum Superpräsidenten machen und auch formal mehr Macht in seinem Präsidentenpalast bündeln. Davutoğlus Ablösung war nur ein Schritt auf dem Weg dahin. Yıldırım ist längst Erdoğans Interessenverwalter. Jetzt will der Präsident allen beweisen, dass nur er am besten weiß, wie man Politik macht.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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