Entführungsopfer:Gefangen im Trauma

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Die Leipziger Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke sind frei - und offenbar gesund. Nun müssen sie die 99 Tage in der Hand irakischer Kidnapper verarbeiten. Manche Ex-Geiseln schaffen das niemals.

Annette Ramelsberger

Sehr viel später, als sie dann nach endlosen 1128 Tagen Geiselhaft freikamen, als sie nicht mehr wie die drei Jahre zuvor auf Armlänge aneinander gekettet waren, als sie endlich wieder Licht sahen und nicht nur dunkle Schatten - da erst war ihnen klar, dass sie während der ganzen langen Zeit wenigstens eines gehabt hatten, was ihnen das Überleben erleichterte: Sie hatten sich gegenseitig.

Wenn Thomas Kemptner regungslos am Boden blieb und nicht mehr konnte, dann nahm ihn Heinrich Strübig in den Arm.

Wenn Strübig nicht mehr essen, nicht mehr trinken wollte aus Verzweiflung, dann brachte ihn der junge Kollege dazu. Die beiden deutschen Entwicklungshelfer waren auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet - und sie überlebten.

Es ist auch das Beispiel dieser beiden Männer, das die Angehörigen der im Irak verschleppten deutschen Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke aus Leipzig nicht verzweifeln ließ - obwohl die beiden Geiseln auf den letzten Videobändern der Geiselnehmer bleich und angeschlagen aussahen.

"Wir sind jetzt seit über 60 Tagen hier gefangen", sagte Thomas Nitzschke. "Wir sind am Ende unserer Nerven. Bitte helfen Sie uns."

Manche halten die schrecklichste Umstände aus

Die ehemaligen Geiseln aus dem Libanon sind der Beweis dafür, dass Menschen auch schrecklichste Umstände aushalten können.

Die beiden Deutschen Strübig und Kemptner waren von 1989 bis 1992 ganze drei Jahre lang in der Hand libanesischer Kidnapper, die damit zwei in Deutschland einsitzende Familienmitglieder freipressen wollten.

Die Geiseln bekamen kaum zu essen, durften sich monatelang nicht waschen, verrichteten ihre Notdurft in eine rostige Konservendose - immer den anderen in unmittelbarer Nähe.

Die Geiselhaft hielt die beiden Männer auch dann noch gefangen, als sie längst zu Ende gegangen war. Jahre danach noch wachte Strübig nachts auf und tastete nach der Kette, die ihn an den Leidensgenossen von einst band - obwohl da längst keine Kette mehr war.

Der Marburger Traumaexperte Georg Pieper hatte sich nach der Freilassung um Strübig gekümmert. Er sagt, nicht die Angst um sich selbst sei für die meisten Geiseln das Schlimmste, sondern die Sorge, welche Angst die Angehörigen ausstehen könnten. Gerade Geiseln, die zu zweit gefangen gehalten werden, hätten gute Überlebenschancen.

Gemeinsam in eine Phantasiewelt abgetaucht

"Es gab Geiseln, die haben sich noch im dreckigsten Verließ hingesetzt und sich gemeinsam überlegt, was sie kochen würden.

Die sind gemeinsam in eine Phantasiewelt abgetaucht und haben im Geiste Fußball gespielt - der eine als Stürmer, der andere als Schiedsrichter. Die menschliche Psyche ist da erstaunlich erfindungsreich."

Selbst die Situation vor der Videokamera, vor der Bräunlich und Nitzschke um Hilfe baten, muss für sie selbst nicht so belastend gewesen sein.

"Die Menschen erleben eine solche Situation meist viel pragmatischer, gar nicht so dramatisch, wie es scheint", sagt Pieper. So wurde von den Geiseln Strübig und Kemptner ein makabres Weihnachtsvideo gedreht, in dem sie hohlwangig an einem Gabentisch vor einem Christbaum sitzen.

Die Welt war schockiert, die Geiseln sahen es damals vor allem als Gelegenheit, endlich einmal satt zu werden.

Die Chance der Geiseln zu überleben steigt, je länger sie in der Hand der Entführer sind. "Die Hemmschwelle, jemanden zu töten, steigt dann, man gewöhnt sich aneinander", sagt Manfred Langer, Bayerns oberster Polizeipsychologe.

Lange war unklar, ob das auch gilt, wenn Geiseln und Geiselnehmer sich nicht verständigen können. Wenn den Geiseln die Kultur und das Land ganz fremd sind wie im Fall der beiden Leipziger, die nur schnell auf Montage in den Irak sollten.

Die Geiseln müssen reden

Zwei Drittel aller Betroffenen verarbeiten Extremsituationen erstaunlich gut, ein Drittel hat erhebliche Probleme, acht Prozent erkranken an einem posttraumatischen Belastungssyndrom und brauchen ärztliche Hilfe, sagt Langer.

"Es gibt Menschen, wie offensichtlich die Familie Wallert, die gut über ihre Entführung in Indonesien hinwegkam, und es gibt Menschen, die nur eine Woche entführt waren, und diese Zeit nie verwunden haben."

Wenn die Menschen dann in ihr normales Leben zurückkehrten, dann beginnt die zweite schwierige Phase. Die Geiseln müssen reden. Immer wieder. Nur durch Erzählen bauen sie den Druck ab, der auf ihnen lastet.

Aber nach dem dreißigsten Erzählen verliert auch der einfühlsamste Ehepartner die Geduld. Die Betroffenen ziehen sich zurück. Sie fühlen sich von allen missverstanden - und oft so verlassen, wie sie es während der Geiselhaft waren.

Es gibt Menschen, sagt Psychologe Langer, "die sind nach einer Geiselnahme nie mehr auf die Beine gekommen."

Der Artikel ist in einer etwas anderen Version erstmals in der SZ vom 11.4.2006 erschienen.

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