Entführungen in der Ostukraine:Verschleppt, gefoltert, ermordet

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Trinken auf der Straße, fehlender Stempel im Pass, der Versuch, Waren ohne Erlaubnis - oder der Verdacht, die ukrainische Armee zu unterstützen. Separatisten im Osten der Ukraine entführen Hunderte Menschen. Manche tauchen nie wieder auf.

Von Florian Hassel, Donezk

Alexander Chartschenko will einen der letzten warmen Herbsttage genießen. Und so verabschiedet er sich am Nachmittag des 10. Oktober von seinen Eltern, um im Stadtteil Kiewskij der von prorussischen Separatisten beherrschten Stadt Donezk spazieren zu gehen. Chartschenko, 27 Jahre alt, trinkt gerne mal ein Bier. Kneipen sind teuer, ein Bier vom Kiosk ist billig. Ohnehin haben in Donezk nach einem halben Jahr Separatistenherrschaft nur noch ein paar Kneipen geöffnet - besucht in erster Linie von der rasch wachsenden Rebellenschar der "Volksrepublik Donezk" (DNR).

Also kauft Alexander Chartschenko eine Flasche Bier, um sie auf der Straße zu trinken. Das aber haben die Separatisten verboten. Und deshalb wird er von einer Patrouille verhaftet. Er wird zu einer Rebellenposition in der Nähe des Flughafens von Donezk gebracht. Der wird noch von der ukrainischen Armee gehalten. Täglich feuern die Rebellen Granaten auf die ukrainischen Stellungen. Die zahlen mit gleicher Münze heim. Alexander bekommt die Aufgabe, Schützengräben auszuheben, zwölf Stunden am Tag. Nachts schlafen er und andere Entführte in einem kalten Keller. Zu essen bekommen sie einmal am Tag.

Alexanders Mutter Tatjana und Adoptivvater Wjatscheslaw erfahren von all dem erst viel später. Klar ist zunächst nur, dass der Sohn von den Rebellen entführt wurde - schließlich ist dies in Donezk erschreckende Normalität. Die Anlässe sind vielfältig: Trinken auf der Straße, ein fehlender Stempel im Pass, der Versuch, Waren ohne Erlaubnis der Rebellen ins Gebiet unter Kiewer Kontrolle zu bringen, Lösegelderpressung oder der Verdacht, die ukrainische Armee zu unterstützen.

Folter und Mord gehen weiter

Jeden Monat entführen die Rebellen nach Angaben der Vereinten Nationen Hunderte Menschen. Schon am 7. September hat der "Minister für Staatssicherheit" der DNR zugegeben, die DNR halte in und um Donezk etwa 1000 Menschen gefangen. Darunter sind freilich mehrere Hundert ukrainische Soldaten. Ein hoher Beamter der Stadtverwaltung schätzte, dass in Donezk mehr als 1000 Zivilisten von den Separatisten entführt worden seien. Nach dem kurzlebigen Waffenstillstand vom 5. September tauschten Ukrainer und Rebellen Hunderte Geiseln aus. Doch Entführungen, Folter und Mord gehen weiter, vor allem Zivilisten sind davon betroffen. In Donezk machen Angehörige im Oktober zwölf Entführungen öffentlich. Viele andere Angehörige scheuen diesen Schritt.

Die Mutter von Alexander Chartschenko tauscht sich mit anderen Angehörigen von Entführten aus. "Wir haben tagelang illegale Gefängnisse der DNR abgeklappert", berichtet ein Familienangehöriger. Als illegale Gefängnisse dienen etwa das Ex-Hauptquartier des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, die ehemalige Polizeizentrale der Region Donezk, die ehemalige Militärhochschule, ehemalige Kasernen von Einheiten des ukrainischen Innenministeriums und andere Rebellenhauptquartiere. "Wir haben bei unserer Suche die Namen von etwa 20 verschiedenen Rebellengruppen gehört", berichtet der Angehörige von Alexander Chartschenko.

Chartschenko wird an jenem 10. Oktober nicht als Einziger entführt. An anderer Stelle von Donezk kommen uniformierte Rebellen zum 43 Jahre alten Transportunternehmer Timofej Charitinow. "Sie beschuldigten mich, mein Bruder unterstütze die ukrainische Armee", sagt er der SZ. Charitinow ist im russischen Rostow aufgewachsen, Heimat vieler Donkosaken, und erkennt: "Diese Rebellen sind nicht von hier, sondern aus meiner Heimat." Denn an der rechten Hand eines Rebellen erkennt er einen Schriftzug: "Donkosaken".

Die Uniformierten entführen Charitinow samt einem Nachbarn und bringen ihn in einen Keller im Stadtteil Budjonowskij. In dem sitzen 40 andere Entführte. Auch die Rebellen in dem illegalen Gefängnis sind Donkosaken, ist Charitinow überzeugt. Seine Angaben decken sich mit denen einer Ärztin der Rebellen, die der SZ stolz berichtet, dass "uns aus Rostow ein ganzes Bataillon Donkosaken zu Hilfe gekommen ist".

Charitinow wird von einem Rebellen mit dem Spitznamen "Staatsanwalt" verhört. "Meine Antworten passten den Rebellen nicht - sie drohten mich zu erschießen." Charitinow wird in eine Zelle geführt und bekommt mit, wie die Rebellen in der gleichen Nacht "zehn bis 15 weitere Entführte" einliefern. Danach hört er ihre Schreie - viele der Entführten werden gefoltert. In Charitinows Zelle sitzt auch eine Frau. Seit sechs Wochen sei sie hier, erzählt sie ihm. Ihr Vergehen: Sie habe auf ihrem Handy das Foto einer ukrainischen Flagge gehabt. "Ich kann nicht mehr", sagt sie. "Es wäre besser, sie würden mich erschießen."

Charitinow hat Glück. Sein mit ihm entführter Nachbar wird freigelassen und berichtet den Angehörigen, wo er festgehalten wird. Auch ein Anwalt schaltet sich ein. Am Tag nach seiner Entführung wird Charitinow freigelassen und flieht mit seiner Frau über Schleichwege sofort aus dem Rebellengebiet. Wenige Stunden nach seiner Flucht kommen die Rebellen erneut, um ihn wieder festzunehmen. Jetzt versuchen sich die Charitinows in der Nähe von Kiew ein neues Leben aufzubauen, wie Hunderttausende andere aus den Rebellengebieten geflohene Ukrainer.

Maskierte Bewaffnete vom ukrainischen Geheimdienst

Doch nicht nur die Rebellen entführen illegal Menschen. Die SZ kontaktierte die Angehörigen von zwölf im Oktober entführten Menschen und stößt auf den Fall von Alexander Kolesnikow. Der 33 Jahre alte Polizist wird am 6. Oktober im Örtchen Druschkowka nördlich von Donezk von maskierten Bewaffneten entführt. Tagelang fehlt von ihm jede Spur. Dann stellt sich heraus, dass der ukrainische Geheimdienst SBU Kolesnikow verhaftet und ihn in ein Untersuchungsgefängnis gebracht hat. "Sie werfen ihm vor, er habe in der Zeit, als Druschkowka von April bis Anfang Juli unter Kontrolle der Rebellen war, mit ihnen zusammengearbeitet", berichtet ein Angehöriger.

Kolesnikow ist kein Einzelfall. Dem UN-Sonderbeauftragten für die Menschenrechtslage in der Ukraine zufolge gibt der SBU an, allein von April bis Mitte September weit über 1000 mutmaßliche "Militante und Subversive" verhaftet zu haben - laut UN mittels rechtsstaatlichen Kriterien widersprechendem "erzwungenen Verschwindenlassen".

In Donezk bleibt die Suche der Eltern von Alexander Chartschenko tagelang erfolglos. Mutter Tatjana kann kaum noch schlafen, sie beginnt an Herzschmerzen zu leiden. Erst Ende Oktober, 18 Tage nach Chartschenkos Entführung, kommt ein Rebellenkommandeur in den Keller, in dem er mit zehn anderen gefangen gehalten wird, und befiehlt, Chartschenko und zwei andere Entführte freizulassen.

"Seit seiner Freilassung ist Alexander völlig verstört. Er sitzt nur noch zu Hause und traut sich nicht mehr auf die Straße", sagt der Angehörige. "Es herrscht Bespredel" - ein russischer Ausdruck für den Zusammenbruch jeglicher Ordnung. "Und du kannst dich bei niemandem beschweren, weil alles unter Kontrolle der DNR ist."

© SZ vom 14.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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