Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Carl T. in Berlin geboren. Der Bub wächst in einer Familie auf, in der Zusammenhalt größer geschrieben wird als alles andere. Vater, Mutter, Großmutter, Schwester - augenscheinlich nichts Besonderes. Aber schon bald entdeckt der Sohn Verhaltensauffälligkeiten bei der Mutter, auf die er sich keinen Reim machen kann. Einerseits ist sie liebevoll und zugewandt, immer bereit, anderen zu helfen. Andererseits wirkt sie manchmal wie abgeschaltet und greift immer öfter zu Alkohol. Die Familie deckt Sucht und Persönlichkeitsspaltung mit allen Mitteln. Was dahinter steckt, erfährt der Enkel irgendwann von der Großmutter: 1945 ist seine Mutter von fünf Russen verschleppt und vergewaltigt worden. Das hat sich, wie er begreift, "in ihr Leben eingebrannt".
Das Kind lebt in ständiger Anspannung. Es kämpft mit dem Gefühl der Ohnmacht, weil es die Mutter weder erlösen noch vom Alkohol loseisen kann. Stattdessen schleppt Carl T. Beziehungs- und Bindungshypotheken mit sich herum, von denen er viele Jahre später der Historikerin Miriam Gebhardt berichtet. Seine Biografie und vier weitere Lebensgeschichten hat die Wissenschaftlerin nun zu einem Buch verarbeitet: "Wir Kinder der Gewalt". Gebhardt knüpft an ihren 2015 erschienen Bestseller "Als die Soldaten kamen" an, indem sie die Langzeitfolgen der massenhaften, von Soldaten der Siegermächte 1944/45 begangenen Vergewaltigungen beleuchtet. Nun hat sie die familiäre Erblast untersucht, die den Nachkommen mehr oder minder stillschweigend aufgebürdet wurde.
Für den Vorgängerband hat die Autorin manche Kritik eingesteckt. Nicht ganz zu Unrecht, denn Gebhardt hat zwar damals schon klar gemacht, dass die Täter nicht nur aus den Reihen der Roten Armee, sondern genauso aus britischen, französischen und amerikanischen Truppen stammten. Aber zugleich werfen die Opfer-zahlen, mit denen sie nun einmal mehr in der neuen Studie hantiert, Fragen auf. Mindestens 860 000 Personen waren nach ihrer "Schätzung" von direkter Gewalt betroffen - was bitte heißt "Schätzung", und wo ist das Datenmaterial? Darüber verliert Gebhardt kein Wort. Umso erstaunlicher wirkt ihre bisweilen einigermaßen forsche, inhaltlich indes kurzatmige Argumentation.
Dabei weiß Miriam Gebhardt ihren Gegenstand im Großen und Ganzen penibel und publikumswirksam aufzubereiten. Das Gerüst ihrer Darstellung liefern die Gespräche mit den Kindern vergewaltigter Frauen, die von unzähligen offenen Fragen, von Zweifeln, Unsicherheiten und Ängsten berichten - Risse im Lebensfundament, von Anfang an. Die eine wurde besser, der andere schlechter damit fertig. Alle eint freilich die Bereitschaft, sich mit dem Geschehen auseinanderzusetzen. Ist das typisch oder untypisch für diese Generation? "Wir Kinder der Gewalt" gibt darauf keine Antwort.
Die Datenlage ist ungeklärt, die Argumentation wirkt bisweilen hanebüchen
Die dramatischen Konsequenzen, die Krieg und Zerstörung über Jahrzehnte hinweg zeitigen, sind sowohl für Opfer- wie für Tätergruppen gut dokumentiert. Was Miriam Gebhardt eindrucksvoll gelingt, ist die Verflechtung von Einzelschicksal und Kollektiventwicklung. Aus jedem Interview isoliert sie bestimmte Aspekte, die sie anschließend sachlich vertieft. Demnach sahen sich Frauen, die infolge einer Vergewaltigung schwanger wurden, nicht selten von aller Welt, inklusive der eigenen Familie, verlassen. Sozial geächtet und materiell stigmatisiert, liefen sie auch noch Gefahr, als "Ami-Liebchen" oder Prostituierte verunglimpft zu werden.
Ausgesprochen toxisch wirkte der während der Adenauer-Ära propagierte, noch an NS-Ideologien gekoppelte Erziehungsstil: Gegen die "Verzärtelung" des Nachwuchses wurde seelische Abhärtung empfohlen. Mütter und Kinder wurden in Psychokorsetts gezwängt, was Neurosen aller Art begünstigte. Schließlich sorgten das restaurative Klima und die rigiden Moralvorstellungen der 1950er-Jahre dafür, dass sexuelle Gewalt - ob zugefügt oder erlitten - mehr oder weniger totgeschwiegen wurde. Die Erfahrung wurde verkapselt, zur Seite gelegt, verdrängt.
Gebhardt schildert einfühlsam, was ihr das Gegenüber anvertraut, und sie interpretiert das Gehörte mit Umsicht. Immer mal wieder bedient sie allerdings ein persönliches Narrativ statt die Faktenlage zu spiegeln. Hanebüchen ist etwa ihre Unterstellung, dass Deutschland und insbesondere der deutsche Feminismus vom "Problem der weiblichen sexuellen Selbstbestimmung" geradezu obsessiv dominiert worden seien - jedenfalls im Vergleich zu Frankreich, Skandinavien oder den USA. Als Beleg zieht Gebhardt unter anderem die deutsche "Me Too"-Debatte und die 1997 eingeführte Strafbewehrung der Vergewaltigung in der Ehe heran - sowie die legendäre Aktion des Stern, der 1971 ein von mehr als 350 Frauen unterzeichnetes Manifest publizierte: "Wir haben abgetrieben."
Ein Blick nach Frankreich, und Gebhardts Thesenkonstrukt fällt in sich zusammen. Die Stern-Kampagne war die Kopie eines Vorläufers im Nouvel Observateur; Vergewaltigung in der Ehe hat die französische Legislative bereits 1990 zum Straftatbestand erklärt, und dass "Me Too" bei den Nachbarn weniger Aufregung provozierte, wäre erst noch zu beweisen. Solche Verfehlungen untergraben das Vertrauen in ein Buch, dem eigentlich zahlreiche Leser und Leserinnen zu wünschen wären.