Eine Woche des Missvergnügens in Berlin:Am Anfang eines kühlen Sommers

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Der Vizekanzler lässt Dampf ab, und die Kanzlerin kommt unter Druck - in Berlin kippt das Klima, weil die große Koalition sich im Kleinen verzettelt.

Nico Fried, Jens Schneider, Christoph Schwennicke

Der Vizekanzler weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Also fummelt Franz Müntefering immer wieder an dem schwarzen Mikrofon vor seinem Mund herum.

Franz Müntefering: Er würde seinen Überdruck öffentlich eher über die Ohren entweichen lassen, als in laute Beschimpfungen auszubrechen. (Foto: Foto: dpa)

Seine Rede ist sachlich, der Arbeitsminister listet Erfolge auf, lässt sich allenfalls zu einigen Sticheleien hinreißen, nicht aber zu einer scharfen, gezielten Attacke.

Doch die Finger, die Finger führen ein eigenes, nervöses Schauspiel auf, betasten den Stiel des Mikrofons wie eine Gurgel, weshalb ihn die Vorsitzende der Bundespressekonferenz gleich zweimal ermahnen muss, das Gerät doch bitte schön nicht abzumurksen. Seine Rhetorik hat Franz Müntefering unter Kontrolle, seine Motorik aber sagt an diesem Freitagmorgen wohl einiges mehr aus über seinen wahren Gemütszustand.

Am Vortag hat Müntefering zu dieser Pressekonferenz einladen lassen. Das Thema klingt so harmlos und einsilbig wie der, der dazu reden will - und eben deshalb so bedrohlich: "Aktuelles". Selten ist über einen Auftritt schon vorher so viel gemutmaßt worden. Im so genannten Umfeld des Ministers ist von Druck im Kessel die Rede.

Müntefering hat mit Merkel gesprochen und seine Pressekonferenz angekündigt. Und natürlich erinnert man sich sofort an seinen Satz, mit dem er stets davor gewarnt hat, das Kuscheln in der Koalition überzubewerten: "Wenn es sein muss, kann ich innerhalb von zwei Tagen den größten Krach vom Zaun brechen." Ist es an diesem Freitag so weit?

Das Gestern fest im Blick

So viel jedenfalls steht am Ende dieser außerordentlichen Woche in Berlin fest: Zu keinem Zeitpunkt der bald 200 Tage alten Koalition waren die Worte übereinander so böse, waren die Gesichter so ernst, waren die Metaphern der Gesprächspartner so düster wie in jener Woche, die mit dem vierstündigen Koalitionsausschuss bis kurz nach Mitternacht am Sonntagabend begann und nun mit Münteferings Pressekonferenz in die Pfingsttage geht. Diese düstere Entwicklung hat zwei Komponenten. Eine sachliche und eine menschlich-klimatische.

In der Sache stellt sich die Lage so dar, wie einer der ernsten Wochenbetrachter sagt, dass man die "Badewanne kurz vor der Sommerpause randvoll hat laufen lassen, und keiner den Stöpsel findet". Gemeint ist damit, dass die große Koalition vollauf damit beschäftigt ist, den gemeinsamen geldverschlingenden Murks von Hartz IV aus informellen großkoalitionären Tagen in den Griff zu bekommen, und darüber die eigentlichen Großaufgaben wie die Gesundheitsreform in kolossale Bedrängnis kommen.

Fünf Wochen sind es noch, bis die Politik in Urlaub geht, und die Koalition arbeitet sich an der Vergangenheit ab statt an der Zukunft. Schon naht das Sommerloch mit all seinen Eskalationsmöglichkeiten und Fliehkräften, und das Konzept hat hinten und vorne noch keine Kontur. Der Unmut und die Ungeduld im Land nehmen zu, gleichzeitig türmen sich die Aufgaben im Haushalt und in den Sozialkassen milliardenhoch. Schicksalsergeben formuliert es ein Bedeutender so, dass noch nicht einmal eine Militärjunta die Kraft hätte, die Dinge durchzusetzen.

Vom vorzeitigen Bruch ist die Rede

Und in dieser Situation sagt eine Kanzlerin öffentlich diesen verräterischen Satz: "Ich hatte nicht die Kraft." Von diesem Satz und seinem Zustandekommen wird noch zu sprechen sein.

Mindestens so ungut ist die klimatische Komponente. Rot und Schwarz zu einem Koalitionskörper zu machen, glich einer riesigen Organtransplantation. Um Abstoßungserscheinungen zu verhindern, wurde dieser Körper mit Medikamenten voll gepumpt. Die Wirkung aber lässt nach, die Abstoßung nimmt zu. Stark, sehr stark, besorgniserregend. Keiner würde jetzt mehr einen Satz sagen wie vor Wochen noch Peter Ramsauer, er könne sich auch über 2009 hinaus gut eine große Koalition vorstellen.

Im Gegenteil: Vom vorzeitigen Bruch ist die Rede, vereinzelt noch, in interner Runde, aber doch so, dass einer wie Edmund Stoiber wissen muss, dass es nach draußen dringt, wenn er im Koalitionsausschuss warnt, der ganze Laden könne auseinander fliegen.

Franz Müntefering, das alte Dampfross, würde seinen Überdruck öffentlich eher über die Ohren entweichen lassen, als in laute Beschimpfungen auszubrechen. "Ich wollte schon als Kind immer der Friedenshäuptling im Indianerspiel sein", sagt er an diesem Freitagmorgen. Und doch packt er das Seil aus, um einige Kollegen an den Marterpfahl zu binden. Am meisten ärgert er sich darüber, wie sich die Koalition nach außen präsentiert. Die ständigen Streitereien der vergangenen Tage gehen ihm ersichtlich auf den Geist, aber er fasst seinen Unmut nur in klare, nicht in böse Worte.

Ein offensiver, selbstbewusster Auftritt

"Man kann nur erfolgreich sein, wenn man die Erfolge gemeinsam feiert." Das geht genauso gegen die Union, vor allem deren Ministerpräsidenten, wie die nächste Aufforderung: "Wir sollten uns loben, dass wir die Lohnnebenkosten absenken, und nicht gleich mehr fordern." Es ist ein offensiver, selbstbewusster Auftritt. Ein Auftritt, wie man ihn eigentlich von jemand anderem erwarten würde.

Die erscheint am Ende dieser Woche so wenig wie eine Kanzlerin wie noch an keinem Tag zuvor. Ausgerechnet da, wo sie sich ganz zu Hause fühlen müsste, wirkt sie beklemmend einsam. Der Wirtschaftsrat der CDU, in dem sich die Unternehmer vereinigt haben, hat an diesem Donnerstagnachmittag ins Interconti am Berliner Zoo geladen.

Hier müsste die Frau, die der Wirtschaft so viel versprochen hat, wie eine Heldin empfangen werden. Aber schon beim Einzug der Kanzlerin klingt der Beifall, als ob der Saal nicht voll, sondern gerade einmal halb besetzt wäre. Und als hätte es die Monate, in denen sie plötzlich diese strahlende Kanzlerinnen-Gravität gewonnen hatte, gar nicht gegeben, huscht Merkel beiläufig zu ihrem Platz.

Nun darf man an dieser Stelle nicht vergessen, dass der Wirtschaftsrat der CDU, mit Verlaub, weder im politischen Berlin noch in der Partei als gewaltige Macht angesehen wird. Wenn aus dieser Ecke Kritik kommt, könnte Angela Merkel sich auf jenes typische kurze Hochziehen der Mundwinkel beschränken, mit dem sie sonst Lästigkeiten gern abtut.

Freilich leistet sich Wirtschaftsratspräsident Kurt Lauk in seiner Begrüßung Attacken von einer Heftigkeit, wie man sie zum Empfang einer Kanzlerin kaum erwarten würde. Während die Unternehmer im Saal dazu eifrig klatschen, kommt einem in den Sinn, dass so etwas beim alten Helmut Kohl nie passiert wäre. Fast schon respektlos klingt es, als Lauk sagt, das Regierungshandeln sei weit hinter den Erwartungen des Wirtschaftsrats zurückgeblieben. Und dass dessen Seele kocht.

Das große Reizthema heißt Antidiskriminierungsgesetz

Ist die Kanzlerin nun wirklich erschrocken - oder ist es wieder einmal nur Taktik, dass sie so verblüffend kleinlaut antwortet? Am Ende sogar demütig klingend, als ob sie die Attacken ein bisschen verdient hätte, bedankt sie sich für die "konstruktive Kritik". Es hört sich an, als müsse sie sich entschuldigen. Die Menschen im Land seien eben nicht so reformbereit, wie man das bräuchte, und hätten Angst vor Enttäuschungen.

Und als sie dann zum größten Reizthema kommt, dem Antidiskriminierungsgesetz, unterläuft der Kanzlerin ein Satz, von dem einige hinterher sagen, dass solche Formulierungen für eine Kanzlerin verboten sind. Weil sie nicht nach der Macht klingen, die sie hat, sondern nach einer Ohnmacht.

Man könnte freilich auch sagen, dass sie mit diesem Satz nur sachlich ihre Politik erklärt, die sie für richtig hält. Und doch klingt es seltsam defensiv, als sie sagt, dass sie bei der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie "nicht die Kraft hatte", den Begehrlichkeiten aus der eigenen Partei zu widerstehen. Jenen Interessengruppen, die auf die Rechte der Behinderten und der Alten pochten.

Damit will Merkel den Parteifreunden aus der Wirtschaft erklären, dass die Union selbst und nicht die SPD damit angefangen habe, vom Grundsatz abzurücken, wonach EU-Richtlinien nur eins zu eins umgesetzt werden sollen. Um dann wenig später doch zu versichern, dass sie das eigentlich alles nicht so gewollt habe: "Wenn ich von vorne her angefangen hätte, hätte ich es anders gemacht..."

Provoziert durch Bio-Diesel

Zu solch gewundenen Erklärungen passt, dass ihr auch die ins Peinliche rutschenden Versprecher wieder passieren. Ausgerechnet als es um die Lebensarbeitszeit geht und den Zeitpunkt des Renteneintritts, spricht Merkel davon, dass die Leute "den Löffel... ". Der Saal erschrickt, man lacht, ist weiter erschrocken, sie verbessert sich und spricht vom Renteneintritt, bei dem die Menschen "das Gerät aus der Hand" legen müssen.

Durchregieren wollte sie mal, jetzt stottert sie vor dem CDU-Wirtschaftsrat. Wenn ihr Vorgänger Gerhard Schröder mit dem Rücken zur Wand stand, gab er den Basta-Kanzler. Immer wieder praktizierte er das Prinzip Führen durch Drohen. Entweder ihr folgt mir, oder ihr macht euren Kram allein, hat er der SPD wiederholt gesagt. Und sie so hinter sich hergezogen.

Womit aber soll Merkel drohen? Den eigenen Leuten, den CDU-Ministerpräsidenten, deren hyänenhaftes Feixen in dem Maße zunimmt, in dem ihre Kraft abnimmt. Oder gar der SPD. Entweder ihr folgt mir, oder...? Da würde der sozialdemokratische Abgeordnete lachen, und ein SPD-Chef Kurt Beck sich diebisch freuen.

Stoiber: "Wenn Sie das machen, dann gefährden Sie die Koalition"

Ein Schlüssel zu all dem Ärger liegt im Koalitionsausschuss, der am Sonntag getagt hat. Wirklich gut gelaunt ist niemand kurz nach Mitternacht aus dem Kanzleramt hinausgefahren. Doch die schlechte Stimmungslage war eher diffus, zum großen Krach war es nicht gekommen, das ungute Gefühl, das viele Koalitionäre beschlich, lässt sich nur schwer an einem klaren Beispiel erklären. Nun gut, Edmund Stoiber fuhr zweimal hoch - einmal, weil er sich von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil beim Bio-Diesel provoziert fühlte, ein zweites Mal, weil SPD-Fraktionschef Peter Struck Änderungen bei der Föderalismusreform forderte.

"Wenn Sie das machen, dann gefährden Sie die Koalition", soll Stoiber über den Tisch gerufen haben. Natürlich, das ist ein anderer Umgangston. Es ist eigentlich das erste Mal, dass die große Koalition nicht mehr für große Reformen steht, sondern für großen Ärger. Andererseits: Ist man nicht am Ende doch einigermaßen versöhnt auseinander gegangen, nach der einen oder anderen Willensbekundung, Gutes schaffen zu wollen, gerade in diesem Koalitionsausschuss? Auch Stoiber hat sich übrigens so geäußert.

Doch der Stoff, mit dem die Differenzen bemäntelt werden, ist porös und reißt schon am nächsten Tag. Müntefering erregt sich über ein Interview, in dem Stoiber schon wieder Hartz IV als eine einzige Katastrophe darstellt. Andere Unionisten stoßen an diesem Montag ins selbe Horn. Peter Struck nutzt tags darauf prompt die traditionelle Bootstour des Seeheimer Kreises der SPD, um der Union öffentlich die Leviten zu lesen: Es seien doch CDU und CSU gewesen, die in jener legendären Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses im Dezember 2003 bei Hartz IV "zur Verwirrung beigetragen haben".

Die Unions-Fraktion habe "noch nicht gelernt, was es heißt zu regieren", mault Struck. Wer regiere, müsse Verantwortung übernehmen und könne sich nicht als Opposition gerieren. "Das müssen wir ihnen beibringen", sagt Struck unter dem Applaus der vielen Abgeordneten seiner Fraktion, die an diesem trüben Tag über den Wannsee schippern.

Kurz zuvor hatte Angela Merkel im eigenen Lager einen Befreiungsschlag versucht, dessen Wirkung freilich schon am Ende der Woche kaum noch zu spüren sein sollte. Die Fraktionsspitze hatte von überall her Rauchmeldungen erhalten. In vielen Landesgruppen-Sitzungen war über das fehlende Profil der Union geklagt worden. Der Chef der Jungen Union, Philipp Mißfelder, profilierte sich mit einem Interview zur Gesundheitsreform, das die Kanzlerin nicht als Unterstützung empfinden konnte.

Die Abgeordneten wollen nicht nur Stimmvieh sein

Also riefen in der Fraktionssitzung erst einmal der Fraktionschef Volker Kauder und dann die Chefin selbst zur Geschlossenheit auf. Auch da freilich blieb der Ton eigentümlich moderat. Mißfelder wurde sogar gelobt - die jungen Leute hätten doch das Recht, sich um ihrer Zukunft Willen in die Gesundheitspolitik einzumischen. Am Ende erhielt zwar nicht Kauder, aber wenigstens die Kanzlerin starken Beifall. Und doch klangen die Schilderungen der Beteiligten, als hätten die beiden ihre Fraktion wie ein Geschöpf umschmeichelt, von dem sie nicht wissen, ob es noch schläfrig oder schon fast tollwütig ist.

Bei manchen Abgeordneten löst die Fürsorge erst richtig die Zunge, da sie nun wissen, wie heiß es brodelt. Plötzlich sprechen sie darüber, dass sie nicht nur das Stimmvieh für die Beschlüsse sein wollen, die ihre Spitzen aushandeln. Man erfährt, dass sie sich nicht eingebunden fühlen - und vor allem taucht ein Grundmisstrauen wieder auf, wie ein böser Geist. "Wir wissen nicht, wofür die Kanzlerin steht", sagt eine Abgeordnete, die gern einmal in der Fraktion darauf pochen würde, dass die Union eine Position so unerbittlich durchhält wie die SPD in ihren Verhandlungen. Nur, wie soll das gehen, wenn die eigene Linie so variabel erscheint. "Die von der SPD wissen", sagt die Christdemokratin kopfschüttelnd, "dass sie von uns alles rausverhandeln können - weil nichts unverhandelbar ist."

Ein monotones Mantra

Dieses Unbehagen richtet sich gegen die eigene Chefin und ihr als schwach empfundenes Umfeld. Aber es wird sehr verstärkt durch das Gefühl, dass der neue SPD-Chef Kurt Beck im Stil zwar gönnerhaft moderat, aber in der Sache eisern, traditionelle SPD-Positionen durchzuboxen sucht. Seitdem er dabei ist, erscheint vielen der Gedanke, dass es sich bei dieser Koalition um eine gemeinsame Sache handeln könnte, als eine Schimäre.

Wenn es ein Alarmzeichen gibt dafür, dass es wirklich heikel wird, dann ist das ein unvermittelter Auftritt des Merkel-Vertrauten und CDU-Generalsekretärs Ronald Pofalla. Der hat sich eigentlich geschworen, niemals so zu sein wie sein Gegenüber von der SPD, der konfliktlustige Hubertus Heil, der den ihm von der Union verpassten Spitznamen "General Unheil" geradezu als Kompliment versteht.

Eher wollte Pofalla die SPD rücksichtsvoll schonen, er lobte sogar ihre Minister. An diesem Freitag freilich ist Schluss damit. Nach Münteferings Auftritt lädt er spontan ins Konrad-Adenauer-Haus und stellt sich vor die CDU-Ministerpräsidenten. Allen Ländern, in denen die Union regiere, gehe es besser, ätzt Pofalla.

Schon möglich. Nur: Was ist mit Deutschland?

© SZ vom 03.06.06 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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