Edmund Stoiber:Ein Säulenheiliger kippt vom Sockel

Lesezeit: 7 min

In Berlin würde der CSU-Chef gern den gefühlten Kanzler geben, doch auf dem Weg dorthin ist er zum Buhmann der Union geworden. In der vermutlich unangenehmsten Woche seines politischen Lebens hat Edmund Stoiber einen rapiden Ansehensverlust erlitten.

Peter Fahrenholz

Es ist kurz nach elf in der düsteren Augsburger Kongresshalle, als Edmund Stoiber einen kurzen Moment lang darauf hoffen kann, dass es für ihn vielleicht doch nicht so schlimm kommen wird an diesem Vormittag. Mehr als eine halbe Stunde hat der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef jetzt schon geredet auf dem Deutschlandtag der Jungen Union, als ihm beim Thema Familienpolitik erstmals der ganze Saal applaudiert.

Bei seinem Eintreffen ist er zwar frenetisch begrüßt worden, aber dummerweise nur vom Bayern-Block, der ganz hinten im Saal sitzt und mit seinen "Edmund, Edmund"-Rufen nicht verdecken kann, dass viele Delegierte in der Mitte der Halle einfach stumm sitzen bleiben oder gar desinteressiert Zeitung lesen.

Auch während der Rede applaudieren fast ausschließlich die bayerischen Jung-Unionisten, und es zeigt sich rasch, dass der Beifall der Übrigen beim Thema Familie ein trügerisches Zeichen ist.

Denn nach dem Auftritt, als wieder die Bayern allein eine Teil-Ovation spenden und ihr Klatschen verzweifelt in die Länge zu ziehen versuchen, beginnt die Abrechnung. Reihenweise treten JU-Delegierte vor allem aus den nördlicheren Landesteilen ans Mikrofon und geben Stoiber die Schuld am Wahldebakel der Union.

"Ihre Äußerungen haben dazu beigetragen, Angela Merkel zu schwächen", sagt eine Delegierte aus Niedersachsen. "Ich fordere Sie und Ihre Partei auf, die Realitäten zu akzeptieren." Ein anderer moniert das "ständige Quertreiben" aus Bayern und verlangt von der CSU, "sich ins Team einzureihen". Aus dem Bayern-Block ertönen "Aufhören"-Rufe, die Stimmung im Saal ist gereizt - und Stoiber lässt sich davon provozieren.

Mit brachialer Gewalt

Schonungslos, wie er es vermutlich gar nicht vorhatte, rechnet der CSU-Chef in der anschließenden Diskussion mit der Wahlkampagne der Union ab und bricht damit als Erster das große Schweigen.

Wo doch Angela Merkel die Ursachenforschung am liebsten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben würde. Kühl rechnet Stoiber dem neoliberal getrimmten Parteinachwuchs vor, dass die Partei mit ihrer Forderung, die Steuerfreiheit für Nacht- und Feiertagszuschläge abzuschaffen, leider 14 Millionen Wähler verprellt habe, die davon betroffen seien.

"Wer das nicht sieht, nimmt keine ehrliche Analyse vor", ruft er. Die Flat-Tax, die Merkels Schatten-Finanzminister Paul Kirchhof wollte, sei "nicht mehrheitsfähig in diesem Land".

Und auf die Kritik vieler Redner, die Union habe leider die Herzen der Menschen nicht erreicht, gibt der erzürnte CSU-Chef zurück: "Das soll mir erst mal einer sagen, wie man Themen wie Kündigungsschutz, Nachtzuschläge, Mehrwertsteuererhöhung emotional rüberbringen soll."

Es sieht so aus, als ob sich in diesem Moment bei Stoiber der Zorn und Frust über eine Woche entlädt, die vermutlich zu den unangenehmsten seines politischen Lebens gehört.

"Der hat so viele brennende Fronten, das ist Wahnsinn", sagt ein führender CSU-Mann über den Chef. Vor Wochenfrist hat Stoiber mit brachialer Gewalt den Versuch Merkels abgewehrt, ihren Intimfeind Horst Seehofer als zweiten CSU-Minister im Kabinett zu verhindern.

Den ganzen Sonntag über musste er stundenlang mit seinen Präsidiumsmitgliedern telefonieren, ehe er sicher sein konnte, dass er sich über das Murren der eigenen Landesgruppe hinwegsetzen konnte, die Seehofer genauso gern verhindern wollte wie Merkel. Er hat die Kraftprobe zwar am Ende gewonnen, aber die Stimmung im eigenen Laden ist erst mal gründlich versaut.

Mitte der Woche brach dann der Unmut in der CSU-Landtagsfraktion los, die darauf drang, den Nachfolger fürs Amt des Ministerpräsidenten sofort zu bestimmen. Ansonsten drohe ein wochenlanger Wahlkampf zwischen den beiden Bewerbern Günther Beckstein und Erwin Huber, der unweigerlich zur Selbstbeschädigung der CSU führen werde, wurde Stoiber vorgehalten.

Doch der CSU-Chef seinerseits fürchtet, dass ihn eine formelle Bestellung seines Nachfolgers bei den Berliner Koalitionsverhandlungen schwächen würde.

In stundenlangen Gesprächen musste er seine Münchner Hintersassen auf Linie bringen, murrend fügte sich die Fraktion seinem Zeitplan. Aber wieder war ein Brachial-Akt nötig, der Stoiber enorme Kraft gekostet hat. Und jetzt auch noch das Scharmützel bei der Jungen Union.

Edmund Stoiber, der gerne als gefühlter Kanzler auftreten und mit dem gebührenden Respekt behandelt würde, ist in der Union für viele zum Buhmann geworden. Selbst langjährige treue Weggefährten sind entsetzt über seinen rapiden Ansehensverlust in den eigenen Reihen. "Geradezu dramatisch" sei das, klagt einer und fragt sich: "Wie kann das sein, dass jemand, der vor zwei Jahren ein Säulenheiliger war, jetzt so dasteht?"

Dafür gibt es zahlreiche Gründe, und viele davon sind hausgemacht, wenn auch nicht alle. Stoibers schwerster Fehler war sein Zaudern im Wahlkampf, ob er nun nach Berlin wechseln oder doch lieber in München bleiben soll.

Von Franz Josef Strauß stammt das Bild von der Jacke, die falsch zugeknöpft wird. Wer beim ersten Knopf einen Fehler mache, könne den hinterher nicht mehr korrigieren. So geht es auch Stoiber.

"Man hätte alles schnitzen können, wenn er im Juni gesagt hätte, ich will ein Innovationsministerium", sagt einer aus der Führungsriege. Jetzt dagegen ist der Spielraum eng geworden, und Stoiber steht mit seinen späten Wünschen als Egoist da, der die gesamte Statik einer möglichen großen Koalition durcheinander gebracht hat.

Eine besondere Ironie der Geschichte ist es dabei, dass sich einer der Hauptgründe für sein Zaudern als völlige Fehlkalkulation erwies. Er wollte nämlich mit seiner Strategie auch die Debatte um die Nachfolge in Bayern eindämmen. Doch die entbrennt jetzt gerade mit unkontrollierbarer Heftigkeit und droht alle Beteiligten zu beschädigen, Stoiber inklusive.

Eine der Hauptursachen für derlei taktische Fehleinschätzungen liegt indes viel tiefer und ist in München zwar Gegenstand vieler politischer Tischgespräche, öffentlich aber noch immer ein Tabu. Die Stärke Stoibers in seinen Anfangsjahren lag in seiner Beratungsfähigkeit - und in seinen Beratern.

Stoiber verstand es, eine Schar hoch kompetenter Leute um sich zu versammeln und ein offenes, hierarchiefreies Diskussionsklima zuzulassen. Da durfte auch ein einfacher Ministerialrat seine Meinung sagen, ohne Angst haben zu müssen, von den Männern über ihm in den Senkel gestellt zu werden.

Die Stoiberisten waren ein kreatives Team, das sich keineswegs in allen Punkten einig war. Aus dem Hin- und Her bildete sich dann die endgültige Meinung heraus, und wenn das Ergebnis an die Öffentlichkeit kam, hatte es meist eine Menge sachlicher Substanz.

Der wachsame Ratgeber

Doch das Team gibt es in dieser Form nicht mehr. Die Mitstreiter der ersten Jahre haben alle Karriere gemacht, sind die Stufen der Ministerialbürokratie eher hochgeeilt als hochgeklettert, doch das Ohr von Stoiber haben sie nur noch selten. Denn das hat heute vor allem einer: sein Regierungssprecher Martin Neumeyer.

Es gibt in der CSU-Landtagsfraktion nicht wenige, die ihn für den mächtigsten Beamten halten, den es in Bayern jemals gegeben habe, so groß ist sein Einfluss auf den Ministerpräsidenten. "Stoiber ist abhängig von dem wie ein Drogensüchtiger", sagt einer, der das Getriebe in der Staatskanzlei gut kennt.

Nun ist es keineswegs so, dass Neumeyer ein Spin-Doctor wäre, der seinen Chef ständig in die Irre führt. Er ist ein enorm fleißiger, politisch kompetenter Beamter, dem nichts so sehr am Herzen liegt, wie das Wohl Stoibers. Aber er ist eben nur ein Ratgeber, der noch dazu den Eingang zu Stoiber eifersüchtig bewacht.

Angeblich haben hohe Funktionsträger der Staatskanzlei oft wochenlang keinen persönlichen Zugang zum Ministerpräsidenten. "Er wird dadurch zu schnell", beschreibt einer die Folgen. Weil nicht mehr alles mit vielen abgewogen werde, würden viel zu viele überhastete Entscheidungen produziert, die dann oft ebenso hastig wieder korrigiert werden müssten. Der hektische Stoiber ist noch hektischer geworden.

Und er ist mehr denn je davon überzeugt, zumindest in der Union alle anderen an Kompetenz und Erfahrung zu überragen. Wer hat denn schließlich schon in den achtziger Jahren bei Koalitionsverhandlungen mit am Tisch gesessen?

Wer ist denn seit zwölf Jahren Ministerpräsident eines Landes, das sich nun wirklich sehen lassen kann? In der berühmten "Wienerwald"-Rede von Franz Josef Strauß gibt es diese hinreißende Stelle, wo FJS über die Pygmäen in der CDU herzieht. Auch Stoiber denkt ein bisschen so, und er lässt es sich immer wieder anmerken.

Es ist dieses Überlegenheitsgefühl, gepaart mit dem eigenen Opfermythos und dem versteckten Vorwurf der Undankbarkeit, was den eigenen Leuten allmählich zum Halse heraushängt.

In Augsburg, bei der Jungen Union, sagt Stoiber, mehr Solidarität könne er doch gar nicht erbringen, als ins Kabinett Merkel einzutreten, schließlich gebe er dafür "das schönste Amt für einen bayerischen Politiker" auf. Da gibt es höhnische "Ooooh"-Rufe im Saal. "Ich stelle fest, dass nicht viele Ministerpräsidenten ins Kabinett eintreten", gibt er schnippisch zurück.

Es sind aber nicht nur seine eigenen Fehler und der ganz normale Überdruss seiner Partei nach so langen Jahren Stoiber, die dem CSU-Chef zu schaffen machen. Es sind auch die kleinen Merkeleien der CDU-Chefin.

Die Seehofer-Nummer ist so ein Beispiel. Der Streit um den Zuschnitt seines Ministeriums ist ein anderes. Den Interview-Krieg um seine künftigen Kompetenzen als Wirtschaftsminister tut er zwar leichthin als "Sturm im Wasserglas" ab, aber er ahnt, dass dahinter Methode steckt.

Denn Stoiber, so ist er nun mal, hat mit Angela Merkel, Franz Müntefering und Gerhard Schröder nicht nur vage Absprachen getroffen, die jetzt von Pygmäen wie Annette Schavan wieder in Frage gestellt werden könnten. "Frau Merkel und Herr Müntefering wissen, was wir vereinbart haben", sagt er und fügt hinzu: "Ich hatte ein Organigramm dabei."

Edmund Stoiber will unter anderem Teile von Schavans Bildungsministerium, und er kann Abteilungen und Unterabteilungen genau unterscheiden. Es ist die nächste Kraftprobe, die ihm droht, und wenn er sie am Ende gewinnt, wird sie ihn wieder viel Energie gekostet haben.

Dass Stoiber dennoch viel gelassener ist, als er in dieser Lage sein dürfte, hängt auch mit den glücklichen Zügen seines Naturells zusammen. Einerseits weiß er genau: So sehr sich die eigenen Leute in Bayern einen neuen Ministerpräsidenten wünschen mögen, als CSU-Chef ist er bis auf weiteres unersetzlich.

Keiner in der Partei hat eine annähernd vergleichbare politische Statur. Und zum anderen ist Stoiber einer, der sich stets mit Feuereifer auf die nächste Aufgabe stürzt und dabei alten Ärger schnell vergisst.

Mit 64 Jahren ist er immer noch von einer fast kindlichen Begeisterungsfähigkeit. Und nun freut er sich eben auf den neuen Job in Berlin. Mit seinem künftigen Ministerium hat er sich schon vertraut gemacht, und mit Noch-Amtsinhaber Wolfgang Clement hat er bereits lange telefoniert.

Die große Koalition, vorher verteufelt, ist jetzt sein Zuhause. Er genießt es, wenn Schröder in den Koalitionsgesprächen bei seinen Ausführungen zufrieden lächelt oder Müntefering eifrig nickt. Eigentlich, so hat er in kleiner Runde kürzlich erzählt, hätte Schröder die neue Regierung ja am liebsten mit ihm zusammen gemacht.

Und auf den Einwand, dass Schröder sich das dann aber so vorgestellt hätte, dass er selbst den Kanzler macht und Stoiber den Vize, reagierte der CSU-Chef mit einem Blick voller Verwunderung. Ein Blick, der sagt: Na und, was wäre denn daran so schlimm?

© SZ vom 24. Oktober 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: