Die Union und die Familie:Lächelnde Fürsorge

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Alle Beteiligten tun so, als sei der Mangel an Einrichtungen zur Kinderbetreuung in Westdeutschland nur ein technischer Fehler gewesen. So wie man bei manchen Großbahnhöfen vergessen hat, Toiletten einzubauen. Dabei haben die Unionsparteien dieses Gesellschaftsmodell über Jahrzehnte mitgetragen.

Johan Schloemann

Ein Lächeln liegt auf diesem Land. Es ist aber nicht das "unerträglich ignorante" Grinsen des Aussitzers Helmut Kohl, das Herbert Grönemeyer in den achtziger Jahren der alten Bundesrepublik so besang. Das Lächeln ist vielmehr ein aufpasserisches, sich zuwendendes, ein Lächeln der fürsorglichen Bestimmtheit.

Familienministerin Ursula von der Leyen (Foto: Foto: ddp)

Es gehört der siebenfachen Mutter, früheren Ärztin und Gesundheitssystemforscherin, die jetzt als Bundesfamilienministerin mit einem Programm die gesellschaftliche Debatte bewegt, das man mit dem erwähnten Sänger "Kinder an die Macht" nennen könnte. Wenn die Ministerin einem Fernsehmoderator antwortet, spitzt sie beim Sprechen den Mund und äußert sich mit ausgeprägter Artikulation, ohne Nuscheln und Umschweife, um dann am Ende der Antwort ihre Lippen so weit auseinanderzuziehen, wie es bei nicht aufgesperrtem Kiefer nur irgend möglich ist.

Lösungsvorschläge der Kindergärtnerin an der Spitze

Das ist Antlitz gewordene Zuversicht - Zuversicht, dass die kinderfreundliche Gesellschaft machbar ist, wenn man nur den freundlichen Lösungsvorschlägen der Kindergärtnerin an der Spitze zu folgen bereit ist.

Es wäre gewiss ein unzulässige Verkürzung, wollte man das neue Denken, das die einst "bürgerlich" genannten Parteien auf dem Gebiet der Familienpolitik erfasst hat, lediglich an den Biographien oder gar der äußeren Erscheinung der Protagonistinnen festmachen: an der Verbindung von Karriere, frischer Gesundheit und eindrucksvoller Reproduktionsfähigkeit bei Ursula von der Leyen oder an der Lebenserfahrung von Kanzlerin Angela Merkel in einer mit Kinderkrippen gesegneten DDR.

Denn der Druck, endlich mehr Müttern in Deutschland das Arbeiten zu ermöglichen, steigt aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und der wachsenden Einsicht in die Zwänge der Demographie auch ohne die beiden Damen von der CDU.

Und doch sind die beiden Politikerinnen durch das Durcheinander des Jahres 2005 in ungeahnter Plötzlichkeit zu einem symbolischen Gespann aufgestiegen, das für eine Neuordnung der Aufgabenverteilung zwischen Staat und Familie und zwischen Mann und Frau steht.

Das geht so schnell, dass ihre Partei und das konservative Milieu insgesamt kaum hinterherkommen und sich bis auf wenige Ausnahmen gezwungen sehen, mitzulächeln.

20 Zentimeter zu tief

Diese Dynamik, ja die Überassimilation, die bei manchen Unionspolitikern angesichts des als wahlkampfgeeignet erkannten Kinder-und-Beruf-Themas zu beobachten ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein fundamentaler Wandel im Gang ist, der die Konservativen in tiefe Widersprüche und Verwirrung stürzt.

Diese Nervosität wurde auf breiter Front vor drei Jahren sichtbar, als der Generalsekretär der Sozialdemokraten mit einer nicht ganz glücklichen Formulierung die "Lufthoheit über den Kinderbetten" beanspruchte und die Opposition teils mit traditioneller Kritik am sozialtechnologischen Tonfall, teils aber auch mit Flugabwehr-Attacken antwortete, die der eigenen Beherrschung jenes Luftraums dienen sollten.

Seitdem ist der Turbo angeschaltet, und der Kurs von Ursula von der Leyen ("Wer Kindererziehung weiterhin als Frauensache abtut, riskiert, dass immer weniger Kinder geboren werden") scheint der geltende zu sein. Es ist schon verblüffend, wie jetzt alle Beteiligten so tun, als sei die mangelnde Installation von Einrichtungen zur Kinderbetreuung in Westdeutschland nur ein technischer Fehler gewesen, so wie man bei manchen Großbahnhöfen vergessen hat, Toiletten einzubauen - und nicht Ausdruck eines Gesellschaftsmodells, das die Unionsparteien über Jahrzehnte mitgetragen haben.

Die Normalfamilie gibt es nicht mehr

Dieses Modell war die für alle Bürger geltende Normalehe und Normalfamilie, in der jeweils nur einer, der Mann, erwerbstätig ist, während die Frau die Kinder mehrere Jahre zu Hause großzieht, um sie dann später um 12:30 Uhr vom Kindergarten abzuholen oder mit einer warmen Mahlzeit aus der Schule zu empfangen.

Nicht, dass es in der Nachkriegszeit dazu keinen Widerspruch oder keine abweichende Lebenspraxis gegeben hätte - aber in der sozialen Infrastruktur Westdeutschlands hat dieses Fünfziger-Jahre Modell im Großen und Ganzen bis vor kurzem obsiegt. Die Folgen sind für alle spürbar, vom Ehegattensplitting über den frühen Schulschluss bis hin zu den Spülbecken in den meisten Küchen des Landes, die für den durchschnittlich ausgewachsenen Mann etwa 20 Zentimeter zu tief angebracht sind.

Haben die Konservativen diese Prägung nun vergessen? Ganztagsschulen, Kinderkrippen, Elterngeld, Schlechterstellung der hedonistischen Kinderlosen, Integration durch gleiche Bildung für alle in Kindergarten und Schule, Ausschöpfung der Arbeitskraft möglichst aller Bürger - das sind klassische Kennzeichen einer massiv in die Gesellschaft und die Lebensplanung hineingreifenden staatlichen Planung: Und nun soll all dies nach gut 60 Jahren CDU nicht mehr als eine kosmetische Korrektur sein?

Wirtschaftsnähe oder Tradition?

Wenn man genauer hinsieht, erkennt man jedenfalls, dass, wer sich dem bürgerlichen Lager zurechnet, heute unter einer prekären Gespaltenheit zwischen Geschäft und Weltbild zu leiden hat. Dieser Gegensatz zwischen harter Wirtschaftsnähe und weicher Traditionspflege, zwischen Volkswirtschaft und Familie, ist in bürgerlichen Eliten immer latent vorhanden.

Die Interessen des Staates dürften "ins Heiligtum der Privat- und häuslichen Erziehung nicht störend einwirken", schrieb der Liberale Karl von Rotteck im Vormärz im "Staatslexikon"; und doch waren es die gleichen Schichten, die diesem Gedanken anhingen und die dann als Träger wirtschaftlicher Dynamik die Entfaltung eines mächtigen Industriestaates mitbetrieben, zu der auch die Ausweitung eines staatlichen Erziehungswesens gehörte.

In einem ähnlichen Konflikt befinden sich nun die Bürgerlichen - und er wird spürbarer, wenn die Wirtschaft unter Druck steht. Würde man in die Versammlung eines Lions-Clubs in einer Provinzstadt oder in die eines regionalen Arbeitgeberverbands gehen und sagen: "Wir brauchen mehr Leistung, mehr Wettbewerb, wir müssen wieder länger arbeiten, und wir brauchen auch eine bessere Kinderbetreuung, damit die Frauen, die arbeiten, nach einer Schwangerschaft nicht so lange ausfallen, und damit wir mehr Rentenzahler bekommen" - man würde viele nickende Köpfe sehen.

Würde man derselben Versammlung sagen: "Wir müssen die klassische Familie stärken, sonst erodieren unsere Werte, Eltern müssen wieder mehr Verantwortung übernehmen, anstatt sich immer nur selbst zu verwirklichen" - da würden ebenfalls alle nicken. Das eine Nicken ist nationalökonomisch, das andere weltanschaulich, das Milieu ist dasselbe.

Der Ruf nach mehr staatlicher Kinderbetreuung folgt eindeutig dem wirtschaftlichen, nicht dem weltanschaulichen Impuls der Konservativen.

Tief im Innern widerspricht er dem Traum von Familie, mit dem konservative Denker wie Udo Di Fabio, Paul Kirchhof und Meinhard Miegel und auch Unionspolitiker wie Horst Köhler und Jürgen Rüttgers imprägniert sind - und doch sind es dieselben, die kaum eine Gelegenheit auslassen, mehr Marktdynamik und Mobilisierung von Arbeitskraft einzufordern.

Darin liegt ein Problem, das lange noch nicht gelöst ist: Man kann nicht die doppelt arbeitenden, hochmobilen Arbeitnehmerpaare, die der Globalisierung trotzen, und die familiäre Geborgenheit nach alter, rheinischer Manier gleichzeitig haben. Auch nicht, wenn man noch so viel lächelt.

© SZ vom 18.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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