Die Kanzlerin bei Anne Will:Wie war ich?

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Angela Merkel erläutert in der ARD ihre Haltung zu den Flüchtlingen. Den Kritikern ihres Kurses kommt sie entgegen, doch einen Aufnahmestopp lehnt sie nach wie vor ab.

Von S. Braun, C. Hickmann und M. Bauchmüller

Eine Stunde in der Talk-Show von Anne Will, das macht die Bundeskanzlerin sehr selten. Doch die wachsende Kritik an ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik hat Angela Merkel umdenken lassen. Deshalb entschied sie sich, am Mittwochabend einer breiteren deutschen Öffentlichkeit zu erklären, was sie antreibt, wie sie ihre Kritiker erlebt und wie sie die Probleme lösen möchte. Im Folgenden die wichtigsten Antworten zum Auftritt.

Wieso musste Merkel sich erklären?

Weil sie gemerkt hat, dass für sie die Debatte über Probleme, Schwierigkeiten und den lauten Ruf nach einer Begrenzung der Zuwanderung aus dem Ruder laufen könnte. Schon längst sind die kritischen Äußerungen aus allen drei Koalitionsparteien kein leises Gegrummel mehr oder der Zorn der immer gleichen Unzufriedenen. Wenn vom Bundespräsidenten über den CSU-Vorsitzenden und den Vizekanzler von der SPD bis hin zum eigenen CDU-Innenminister viele nach Begrenzungen rufen, konnte die Kanzlerin das Debattieren nicht mehr nur den anderen überlassen.

Ist sie auf die Kritiker zugegangen?

Nein und Ja. Sie ist niemandem entgegengekommen, der einen Aufnahmestopp fordert. Einen solchen könne es nicht geben, hat die Kanzlerin erneut betont. Es sei illusorisch, etwas anderes für möglich zu halten. Im Übrigen wolle sie keine falschen Versprechungen machen. Etwas zu beschließen, das nach zwei, drei Tagen wieder vorbei sei, würde die Glaubwürdigkeit der Politik nur untergraben. Allerdings hat Merkel wiederholt, dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, schneller und entschlossener zurückgeschickt werden müssten. Hier plädiert sie faktisch für eine radikale Begrenzung. Die Kritiker aber wird das wohl nicht beruhigen.

Wie will sie die Probleme lösen?

Merkel will die Fluchtursachen bekämpfen. Sie hat angekündigt, dass viel mehr Geld in die Außenpolitik und die Entwicklungshilfe fließen werde. Vordringliches Ziel sei, die Menschen in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens besser zu versorgen, damit sie sich nicht auf den Weg machen. Außerdem setzt sie auf eine europäische Lösung und dabei vor allem auf eine engere Kooperation mit der Türkei, über die derzeit die meisten Flüchtlinge nach Europa kommen. Besonders konkret ist sie dabei aber nicht geworden. Sie denkt daran, dass die Küstenwachen der Türkei und Griechenlands enger zusammenarbeiten. Das dürfte aber heißen: Die Türkei soll am Ende verhindern, dass viele Menschen über die Ägäis nach Europa kommen. Das heißt nicht Zaun oder Mauer. Aber faktisch soll die Türkei Flüchtlinge vom Fluchtweg abhalten - das dürfte einen Preis haben, finanziell und politisch.

Sieht Merkel Fehler bei sich?

Nein. Insbesondere hält sie es für falsch zu glauben, Hunderttausende Flüchtlinge hätten sich auf den gefährlichen Weg gemacht, weil die deutsche Kanzlerin sich mit Flüchtlingen freundlich habe ablichten lassen. Eher schon habe die freundliche Begrüßung der Flüchtlinge auf dem Münchner Hauptbahnhof diese Wirkung entfaltet. Kritiker Merkels dagegen halten gerade ihre Selfies für ein Problem. Diese hätten sich unter Flüchtlingen rasch verbreitet. Berichte aus den deutschen Botschaften in der Region bestätigen eher die Kritiker als Merkel.

Rhapsodie in Blau: Auf die Frage, ob sie ihren Innenminister entlassen werde, sagt Angela Merkel (rechts): "Natürlich nicht." (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Wie lange geht das noch?

Das kann niemand sagen. Auch Merkel nicht. Und das heißt auch: sie weiß nicht, wie viele noch kommen. Das ist der Kern des Problems, das Ende bleibt offen. Für eine Regierung ist das besonders schwierig. Sie kann nicht erklären, wie das alles endet. In der Talkshow wird deutlich, dass Merkel das nicht ängstigt. Für viele andere aber ist es das größte Problem von allen.

Ist ihre Kanzlerschaft gefährdet?

Fürs erste nicht. Deshalb gibt sich Merkel auf derlei Fragen gelassen. Nach wie vor sind die Umfragewerte der Union nicht so schlecht, dass sie in Panik verfallen müsste. Außerdem gibt es in der CDU, die über einen Nachfolger entscheiden müsste, niemanden, der derzeit wirklich für das Kanzleramt infrage käme. Und dann gibt es da auch noch ganz klassische technische Gründe: Für einen Sturz im Parlament müsste sie schon selbst die Vertrauensfrage stellen. Das wird sie sicherlich nicht tun. Alternativ könnte die SPD versuchen, sie über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen. Dazu aber müsste Gabriel genau jene rot-rot-grüne Koalition schmieden, die er bis heute ablehnt.

Wie reagierte sie auf Horst Seehofer?

Sie hat ihn umschmeichelt. Sie hat die Zusammenarbeit mit ihm gepriesen und an keiner einzigen Stelle ein böses Wort über ihn verloren. Hier kommt Merkels alter Mechanismus zum Tragen: wenn die Attacken besonders scharf werden, weicht sie aus und lässt den Angriff einfach mal ins Leere laufen. Ob das Seehofer beruhigen wird, ist fraglich. Der CSU-Chef äußerte bereits mehrmals seine Sorge über die gegenwärtige Situation. Hinzu kommt: Er will ernst genommen werden. Wenn er das Gefühl hat, dass Merkel auf seine Warnungen nicht reagiert, wird er seine Attacken wohl eher noch ausbauen.

Was sagt sie zur Haltung der SPD?

Sie wurde nicht dazu gefragt - aber selbst wenn: Viel hätte sie nicht antworten können. Die SPD weiß es schließlich selbst nicht so genau. Auf der einen Seite stehen Personen wie die Parteilinke Hilde Mattheis, die "Debatten über Grenzschließungen" ablehnt und die "Betonung von angeblich zu vielen Flüchtlingen" kritisiert. Auf der anderen Seite steht etwa Bundestags-Fraktionsvize Axel Schäfer, der zwar zur Linken gezählt wird, den Auftritt der Kanzlerin aber so kommentiert: "Die Botschaft muss heißen, wir schaffen das - und wir müssen Zuwanderung begrenzen. Dieser zweite Aspekt hat mir bei der Kanzlerin gefehlt. Und er ist unverzichtbar." An der Parteispitze wird das ähnlich gesehen - trotzdem vermeidet man es dort, die Kanzlerin zur Kehrtwende aufzufordern. Stattdessen stützt SPD-Chef Sigmar Gabriel am Donnerstag die Kanzlerin: Deren Linie sei richtig - man habe "in Europa keine Zugbrücke, die wir hochziehen können".

Hält sie noch zu ihrem Innenminister Thomas de Maizière?

Aber ja! Merkel antwortet leidenschaftlich: "Ich brauche ihn. Dringender denn je." Trotzdem hat sie ihm die Verantwortung für die Flüchtlinge entzogen, um sie ihrem Kanzleramtsminister Peter Altmaier zu übertragen. Das erinnert stark an den Mai 2012: Damals übernahm Altmaier das Umweltministerium - Vorgänger Norbert Röttgen war als Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen gescheitert. Auch um die Energiewende stand es schlecht - innerhalb der Union wuchs der Widerstand. Damals trat Altmaier eine beispiellose PR-Offensive los, samt Zehn-Punkte-Programm, Titel: "Mit neuer Energie". Davon blieb zwar manches unerledigt, aber es war zumindest mal ein Plan. Dabei gelang ihm sogar das Kunststück, Freunde und Kritiker der Energiewende gleichermaßen anzusprechen. Dieses Talent könnte ihm nun zupasskommen. An seiner Loyalität zu Merkel kann ohnehin kein Zweifel bestehen.

© SZ vom 09.10.2015 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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