Deutschlands Osten:Ein Auftrag für alle

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Die politische Mitte hat noch nicht verloren gegen die AfD, das haben die Wahlen in Sachsen und Brandenburg gezeigt. Aber: Im Kampf um die freiheitliche Demokratie braucht die Politik jetzt Hilfe von der Zivilgesellschaft.

Von Cornelius Pollmer

Das Ergebnis der Landtagswahlen im Osten ist wie ein Kippbild, je nach Betrachtungswinkel lassen sich völlig unterschiedliche Dinge darin erkennen. Wer möchte, sieht auf dem Bild abermals heftige Zugewinne der AfD, die etwa in Sachsen alleine knapp stärker abschnitt als Linke, SPD und Grüne zusammen. Wer es anders möchte, sieht auf dem Bild Regierungsparteien, die trotz dürftiger Leistungsbilanz (SPD in Brandenburg) und müder Parteibasis (CDU in Sachsen) erste Plätze verteidigt haben.

Und wer es noch verdrehter mag, darf schon jetzt feststellen: Um einen noch größeren Erfolg der AfD zu verhindern, haben viele Sachsen CDU gewählt, exakt jene Partei, die lange am rechten Rand lavierte. Im Gegenzug könnte der enorme Erfolg der AfD zur Folge haben, dass das Bundesland nur in einem irgendwie progressiven Bündnis der CDU mit SPD und Grünen zu regieren sein wird.

Doch ist die Wahl in Sachsen und Brandenburg keine reine Auslegungssache. Sie sendet eindeutige Botschaften, darunter zwei besonders wichtige. Erstens, Wahlen sind für die politischen Parteien diesseits extremer Ränder auch im Osten weiterhin zu gewinnen. Zweitens, dieser Kampf wird für die erweiterte politische Mitte viel schwerer, als sie es lange glaubte.

Um die liberale Demokratie zu verteidigen, braucht die Politik die Hilfe der Zivilgesellschaft

Warum ist der Kampf zu gewinnen? Mut macht zunächst die hohe Wahlbeteiligung. Vor fünf Jahren titelte ein Satireportal noch wahrheitsgetreu: "Demokratie in Sachsen an 50-Prozent-Hürde gescheitert." Auf Dauer nimmt jede Gesellschaft Schaden, wenn zu wenige sich aufgerufen fühlen, in ihr mitzuwirken. Nun haben in Sachsen zwei Drittel der Wahlberechtigten gewählt, in Brandenburg etwas weniger. Vor allem die AfD hat Nichtwähler mobilisiert. Dass aber die Parteienbindung im Osten besonders gering ist, gilt perspektivisch auch für sie.

Dafür, dass der Kampf zu gewinnen ist, spricht auch, dass die SPD in Brandenburg gegen jeden Trend bei einer Wahl mal wieder die meisten Stimmen bekommen hat und dass die CDU in Sachsen durch Michael Kretschmer eine Belebung erfahren hat, mit der lange nicht zu rechnen gewesen war. Kretschmer hat eindrucksvoll gezeigt, welche Tugenden es braucht, um politisch Boden gut zu machen. Er hat gesundes Selbstbewusstsein demonstriert, wo in der CDU lange Arroganz vorherrschte. Er hat sich brutal aufgeopfert, wo viele Abgeordnete speziell seiner Partei ihre Mandate lange als eine Art Abo verstanden, das sich wie von selbst immer wieder verlängert. Kretschmer hat, gemeinsam mit der SPD, große Lösungen angestrebt für neuralgische Probleme wie den Mangel an Lehrern und Polizisten, und er hat begonnen, diese Lösungen auch umzusetzen.

Das Abschneiden der CDU in Sachsen lässt sich, siehe Kippbild, unterschiedlich bewerten. Ein Erfolg für Michael Kretschmer ist es in jedem Fall. Und in diesem Erfolg ist auch zu erkennen, welche gewaltige Arbeit für politische Parteien und ihre Mitglieder ansteht, vor allem im Osten.

Warum wird es für die schon länger etablierten Kräfte so schwer, den Kampf auf Dauer zu gewinnen? Mit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende 2017 begann für Michael Kretschmer das Projekt Landtagswahl. Er baute das Kabinett klug um, erneuerte zusammen mit der SPD den Stil der Regierungsarbeit und lebte vor, was es bedeutet, den Bürgern zu dienen. Aber angesichts der enormen Verwerfungen im Osten Deutschlands darf dieser neue Stil nicht auf die politische Führung beschränkt bleiben.

Es gibt natürlich viele Mandatsträger, die ernsthaft im Landtag und vor Ort ihrem Auftrag nachkommen. Beim Parteitag der CDU in Chemnitz im Juni aber sagte Kretschmer einen Satz, der in die Wiedervorlage gehört. Die offene Gesellschaft in Sachsen könne nur von innen verteidigt werden, sagte er, und: "Wir brauchen jeden." Jeder, damit sind kommunale Abgeordnete genauso gemeint wie Mitarbeiter der Verwaltung, Familienmütter genauso wie Arbeitskollegen und Freiwillige Feuerwehrleute. Eben: jede und jeder.

Es braucht viel, damit der Osten nicht abrutscht: Verstärkt eine Sachpolitik, die gerade Menschen im ländlichen Raum spürbar zeigt, dass der Staat mehr ist als ein amorphes Abstraktum, das vor allem Geld kostet. Politische Akteure, die zwar unbedingt auf Anstand und Fairness achten, sich sonst aber auf inhaltliche Abgrenzung statt moralische Ausgrenzung fokussieren. Und, garantiert nicht zuletzt, eine Zivilgesellschaft, die für den Erhalt einer freiheitlich demokratischen Grundordnung kämpft und ansonsten Streit und Meinungsvielfalt nicht scheuen darf.

© SZ vom 03.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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