Deutsche Nahostpolitik:Balanceakt

Donald Trump verändert die Koordinaten im Nahen Osten. Das stellt Berlin vor eine Herausforderung: Die Bundesregierung muss es schaffen, das Völkerrecht zu verteidigen und gleichzeitig zu Israel zu stehen.

Von Daniel Brössler

In keinem der 146 Artikel des Grundgesetzes wird ein anderer Staat erwähnt, auch nicht der Staat Israel. Dennoch war und ist zutreffend, was Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 vor der Knesset in Jerusalem sagte: Die historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels ist Teil deutscher Staatsräson. Ein Deutschland, das sich nicht mehr verantwortlich fühlte für die Sicherheit des jüdischen Staates, wäre eines, das sich aus seiner Verantwortung für die Schoah stiehlt. Solange dies nicht der Fall ist, genießt diese Verantwortung im politischen Sinne Verfassungsrang. Sie ist der ungeschriebene Artikel 147 des Grundgesetzes. Die Bekenntnisse zur Sicherheit Israels dürften in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben, sagte Merkel in der Knesset. Die Stunde der Bewährung ist jetzt.

Sie ist es nur in anderer Weise, als Merkel es ursprünglich erwartet hat. Sie dachte vermutlich eher an jenes Szenario, von dem der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2012 in Israel sagte, dass er es sich nicht ausmalen wolle - also eines, in dem Israel in existenzieller Not militärischen Beistand von Deutschland erbitten könnte. Abgesehen davon, dass Israel wohl nie das eigene Überleben ausgerechnet von deutscher Schützenhilfe abhängig machen wird, muss sich das Berliner Bekenntnis zu seiner Verantwortung heute in ganz anderer Weise bewähren und beweisen. Das Problem sind nicht Israels Feinde, sondern Israels Freunde.

Mit dem Bestehen auf der Zweistaatenlösung und dem Beharren auf einer nur einvernehmlichen Veränderung völkerrechtlich anerkannter Grenzen befand sich Deutschland über Jahrzehnte auf einer Linie mit fast allen anderen Staaten, die Israel wohlgesonnen sind, einschließlich der USA. Innerhalb der EU zählte Deutschland weder zur Mehrheit der scharfen Kritiker Israels noch zur kleinen Minderheit seiner kritiklosen Freunde. Im heiklen Gleichgewicht aus völkerrechtlicher Prinzipientreue und prinzipiell pro-israelischer Haltung hatte es sich die deutsche Nahostpolitik bequem gemacht. Damit ist es vorbei.

Die Bundesregierung darf sich nicht nur vom Frust über Trump und seinen israelischen Verbündeten Netanjahu leiten lassen

Die Alleingänge von US-Präsident Donald Trump von der Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem über den Rückzug aus dem Atomabkommen mit Iran bis hin zur Anerkennung der Souveränität Israels über die Golanhöhen haben das Koordinatensystem der Nahostpolitik dramatisch verschoben. Hinzu kommt wohl bald ein vermutlich hoffnungslos einseitiger amerikanischer Friedensplan. Wiewohl die Positionen der Bundesregierung konstant geblieben sind, verändert sich in der Folge der deutsche Standort im Verhältnis zu Israel. Vor dieser Bewährungsprobe steht eine Bundesregierung, deren Kanzlerin in der Knesset ein Versprechen abgegeben hat und deren Außenminister "wegen Auschwitz" in die Politik gegangen ist.

Diese Regierung wird in ihrer Nahostpolitik eine neue Balance finden müssen. Einerseits kann sie die Verachtung des amerikanischen Präsidenten für das Völkerrecht nicht hinnehmen, andererseits muss sie dem Versuch widerstehen, sich nur vom Frust über Trump und seinen israelischen Verbündeten Benjamin Netanjahu leiten zu lassen. An vehementen Kritikern der israelischen Besatzungspolitik herrscht kein Mangel. Hier gibt es keine Lücke zu füllen und ganz gewiss keinen Bedarf an deutscher Führung. Die Frage, ob Deutschland wirklich den allermeisten der vielen Rügen Israels durch die UN-Generalversammlung zustimmen muss, ist berechtigt. Umso mehr, als ein Missverhältnis besteht zwischen der unablässigen Kritik an Israel und der Hemmung, auch Diktaturen wie Saudi-Arabien, Syrien und Nordkorea zu verurteilen.

Seit Januar ist Deutschland für zwei Jahre Mitglied des UN-Sicherheitsrats; im April steht es dem Gremium für einen Monat vor. Um diesen Sitz hatte sich ursprünglich auch Israel beworben, zog die Kandidatur aber zugunsten Deutschlands zurück. Aus dem Auswärtigen Amt erhielten die Israelis damals die Zusage, man werde auch ihre Interessen wahrnehmen. Das kann nun nicht bedeuten, dem amerikanischen Präsidenten auf seinem Trampelpfad durchs Völkerrecht zu folgen. Damit wäre Israels Interessen auch gar nicht gedient, weil es an der Blockade des Sicherheitsrats nichts ändern würde. Andererseits kann sich deutsche Politik auch nicht in berechtigter Kritik an Trump erschöpfen. Sie muss tun, was vielen anderen zu anstrengend ist: zum Völkerrecht stehen und zu Israel. Der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen versucht es immerhin, indem er seine Kritik an israelischen Bulldozern in den besetzten Gebieten verbindet mit seiner Klage über die Raketen der Hamas.

Trumps Zerstörungswerk zwingt in vielen Feldern der internationalen Politik zu notdürftigen Befestigungsarbeiten. Dabei es geht darum, zumindest die wichtigsten Fundamente zu erhalten. Der ungeschriebene Artikel 147 ist für Deutschland ein solches Fundament. Jetzt muss sich zeigen, ob es trägt.

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