Demoskopie:Die Umfrageritis

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Die Schlussphase des Wahlkampfs wird von zwei Phänomenen geprägt. Beide sind allgegenwärtig, beide verlieren, je länger sie ihr Wesen treiben, ihre Sinnhaftigkeit. Das erste Phänomen heißt Kirchhof, das zweite Wahlumfragen.

Heribert Prantl

Kirchhof ist der Volksmissionar dieses Wahlkampfes. Seitdem sich herausgestellt hat, dass den Menschen seine Botschaft vom "Garten der Freiheit", den man am besten sozialpolitisch nackt betritt, nicht so gefällt, erhöht er die Predigtfrequenz - und verkündet sie beim Juristentag in Genf, beim Familiengerichtstag in Brühl und bei Wahlkampfveranstaltungen gleichermaßen. Es ist die Crux von Kirchhof, dass er Wissenschaft und Politik nicht unterscheiden mag.

Dieses Problem wird mit dem Wahltag gelöst sein. Problem Nummer zwei nicht. Dieser Wahlkampf ist von Umfragen massiv beeinflusst. Die Umfrageindustrie hat die Konjunktur, die man sich für andere Wirtschaftszweige wünscht. Man kann sich angesichts der Häufigkeit der Umfragen fragen, ob sie Trends wirklich nur noch feststellen oder ob sie diese nicht auch gestalten. Entgegen herrschender Ansicht über die Überregulierung in Deutschland gibt es keine Normen, die dem Einhalt gebieten.

Vor der Umfrageritis geschützt sind nur die Stunden zwischen Öffnung und Schließung der Wahllokale: In dieser Zeit dürfen keine Umfrageergebnisse veröffentlicht werden. Andere Länder sind rigoroser: In Luxemburg ist die Veröffentlichung von Umfragen über das Wahlverhalten innerhalb eines Monats vor dem Wahltag untersagt; in Griechenland und Italien gilt eine Sperrfrist von 15 Tagen, in Frankreich und Ungarn von einer Woche, in Spanien von fünf Tagen. In Deutschland verzichten ARD und ZDF in der letzten Woche freiwillig auf die Umfragen.

Der Gleichheitsgrundsatz der Wahl steht auf dem Spiel

Wählerumfragen können Wohltat sein und Orientierung bieten. In der letzten Woche vor der Wahl wird aber aus der Wohltat Plage. Die Umfragehysterie kann gar gegen das Verbot unzulässiger Wahlbeeinflussung, also gegen die Wahlfreiheit, verstoßen. Wahlen müssen, so steht es im Grundgesetz, allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein.

Aber sehr hoch hängen diese Grundsätze offenbar ohnehin nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat soeben mit formalistischer Begründung Anträge gegen die Verschiebung der Wahl in Dresden nach dem Tod einer Direktkandidatin abgebürstet; man könne die Bedenken, so das Gericht, ja nachträglich, in einer Wahlanfechtung, geltend machen. Jeder weiß, dass solche Anfechtungen äußerst selten Erfolg haben.

Auf dem Spiel stand und steht der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, wonach jede Stimme das gleiche Gewicht haben soll. Wenn am 18. September eine der kleineren Parteien knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt, wiegt jede Stimme in Dresden, die ja erst zwei Wochen später abgegeben wird, nicht mehr hundert Gramm, sondern einen Zentner. Es wäre klug gewesen, die Dresdner am nächsten Sonntag wenigstens die Zweitstimme abgeben zu lassen.

© SZ vom 15.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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