Armin Nassehi, 53, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Herausgeber des Kursbuchs.
Enthusiasten und Skeptiker der europäischen politischen Ebene und ihrer transnationalen Entscheidungsprozeduren teilen einen Konsens: die Diagnose eines Demokratiedefizits. Für die Enthusiasten liegt das vor allem daran, dass es kein europäisches Bewusstsein und keine europäische Öffentlichkeit gibt. Kritiker weisen darauf hin, dass ein solches Bewusstsein den unterschiedlichen nationalen Eigenarten in kultureller, ökonomischer und politischer Hinsicht nicht zuzumuten ist - derzeit wohl in erster Linie in ökonomischer Hinsicht.
Dass es auf europäischer Ebene in der Politik ein Demokratiedefizit gibt, scheint also ausgemacht zu sein. Nur was heißt das? Das europäische Parlament wird demokratisch gewählt, die Mitglieder der Europäischen Kommission werden von demokratisch gewählten nationalen Regierungen nominiert und vom europäischen Parlament bestätigt. Und der Europäische Gerichtshof sorgt für eine entsprechende Rechtsaufsicht. Was freilich als europäisches Demokratiedefizit erscheint, ist das Fehlen einer Opposition, also der politischen Organisation von nicht mehrheitsfähigen Auffassungen.
Ämter werden durch Mehrheiten legitimiert und durch mehr oder weniger direkte Wahlen besetzt, das ist das Grundprinzip der Demokratie. Demokratisch erscheinen solche Ämter nur, wenn sie auf Zeit besetzt werden. Und deshalb ist nicht das Wählen der entscheidende Akt der Demokratie, sondern das explizite Abwählen. Damit aber jemand abgewählt werden kann, muss innerhalb des politischen Systems eine Opposition etabliert werden, die im Falle der Abwahl gewählt ist. Sie muss mit den entsprechenden Mitteln und Kompetenzen ausgestattet sein, mit einem angemessenen inhaltlichen Programm, mit Personal und ansprechbaren Zielgruppen.
Vom illoyalen Untertan zur Opposition
Deshalb wurde in der Geschichte der Demokratie irgendwann die opponierende Seite zum legitimen Teil des politischen Systems. Sie galt nicht mehr als Versammlung von fehlgeleiteten und illoyalen Untertanen; sie wurde, wie es seit 1826 im Vereinigten Königreich in einer schönen Formulierung heißt, Her Majesty's Loyal Opposition. Die Einheit des politischen Streits wird damit in der postabsolutistischen konstitutionellen Monarchie und in parlamentarisch-demokratischen Republiken nicht durch Versöhnung der Positionen, sondern durch Fokussierung auf ein politisches Zentrum ermöglicht, das gespalten ist. Politik operiert mit einer Doppelspitze.
Es ist also die Opposition, die eine Abwahl des Herrschers beziehungsweise der Regierung ermöglicht - dies erst macht Politik zu demokratischer Politik. Mit dieser Erkenntnis lässt sich das Demokratiedefizit Europas genauer bestimmen. Es gibt zwar demokratische Wahlen für Europa, und im europäischen Parlament werden auch Mehrheiten organisiert.
Aber es gibt keine Regierung im engeren Sinne, die durch diese Mehrheiten bestimmt wird. Noch weniger jedoch gibt es eine Opposition: Letztlich ist in Europa der Aspekt des Abwählens außer Kraft gesetzt. Man kann zwar bei Europawahlen die Mehrheitsverhältnisse ändern, was durchaus Konsequenzen für die konkreten politischen Entscheidungen in Europa hat. Aber es kommt letztlich nicht zu dem klaren Abwahlereignis, das einen Einschnitt markiert und die politische Kommunikation für das Publikum sichtbar macht.