Die Regierung war außerdem klug genug, die Änderung mit positiv klingenden Vorschriften zu ergänzen. Es wurde etwa der Kreis der Antragsteller bei der abstrakten Normenkontrolle erweitert. So kann behauptet werden, dass das Verfassungsgericht Gesetze weiterhin nicht nur ohne Einschränkung prüfen kann, sondern dass dessen Befugnisse sogar erweitert wurden.
Das ist alles wahr. Welchen Stellenwert hat aber die Überprüfungsbefugnis des Verfassungsgerichts, wenn die Regierungsmehrheit dessen Entscheidungen nicht respektiert, und für verfassungswidrig befundene Regelungen später in die Verfassung schreibt? So kann das Verfassungsgericht, welch breite Befugnisse es auch haben mag, seine Rolle im System der Gewaltenteilung nicht mehr wahrnehmen.
Verfassung nach Belieben
Es hätte allerdings noch eine letzte Verteidigungslinie gegeben: den Präsidenten. Er hätte das Verfassungsänderungsgesetz vor Unterzeichnung vom Verfassungsgericht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen können. Doch die Regierungsmehrheit wollte zukünftig auch diesen letzten Garanten für verfassungsmäßige Gesetzgebung aus dem Weg räumen.
Das Gesetz fügt der Verfassung einen neuen Artikel zu, der ausdrücklich regelt, dass der Präsident die Verfassungsänderungsgesetze nur auf ihre formelle Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen kann. Präsident János Áder hat das Gesetz untergezeichnet. Ab jetzt hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament also die Möglichkeit, die Verfassung nach Belieben zu ändern.
Es ist rein rechtlich richtig zu behaupten, dass eine Verfassungsmehrheit in vielen europäischen Staaten die rechtliche Möglichkeit besitzt, Regelungen, die vorher für materiell verfassungswidrig befunden worden waren, in die Verfassung zu heben. Eine Mehrheit, die die Verfassung respektiert, macht so etwas aber nicht. Aber gerade dazu hat sich die ungarische Regierungsmehrheit systematisch bereit gezeigt. Wenn etwa die Regierungsmehrheit morgen beschließen würde, in der Verfassung zu verankern, dass Frauen kein Wahlrecht haben, gäbe es damit jetzt im nationalen ungarischen Recht keine Handhabe mehr, dagegen vorzugehen. Der Präsident wäre, falls alle prozessualen Regeln der Gesetzgebung eingehalten wurden, dazu verpflichtet, diese zu unterzeichnen.
Natürlich kann man behaupten, dies seien absurde Gedankenspiele. Keine Zweidrittelmehrheit würde so etwas tun. Vielleicht geht das Beispiel viel zu weit. Das ändert den Kern der Sache aber nicht: Ab jetzt wären der Regierung solche Beispiele des vollkommenen Durchregierens möglich. Ab jetzt existiert der Rechtsstaat in Ungarn nur von Regierungs Gnaden.