Debattenkultur:Körperteil, böses

Der "erhobene Zeigefinger" ist ein seltsam wirkmächtiger Vorwurf.

Von Detlef Esslinger

Zu den Körperteilen, ohne die man im Alltag nur schwer auskommt, gehört der Zeigefinger; zu den Körperteilen, mit denen man sich leicht unmöglich machen kann, gehört er ebenfalls, in seiner erhobenen Form. "Diejenigen, die sich nun mit erhobenem Zeigefinger zu Wort melden", sagt Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, "sollten zur Kenntnis nehmen, dass es in den neuen Ländern eine eigene Meinung zu dieser Frage gibt." Gemeint ist, ob die Russland-Sanktionen aufgehoben werden sollten; Kretschmer hatte dies vor einigen Tagen gefordert, woraufhin er viel Kritik erhielt.

Der erhobene Zeigefinger ist ein gern gebrauchtes Debattenabtötungsmittel - und zwar die Formulierung, weniger das Körperteil selbst. Wer ihn einem anderen vorwirft, will dessen Argumente loswerden, ohne sich mit ihnen befassen zu müssen; allerdings nachdem er selbst mit den eigenen Argumenten der Debatte erfolgreich die Richtung gewiesen hat. Der erhobene Zeigefinger ist der Vorwurf des Austeilers, der danach nicht einstecken mag.

Im Kreis Heilbronn erklärte ein Verein am Montag, warum er Schilder mit kopulierenden Rehen im Wald aufstellt: um in der Brunftzeit Mountainbiker von Querfeldeintouren abzuhalten, "ohne mit erhobenem Zeigefinger dazustehen". So ein kleines Körperteil, doch keiner will damit gesehen werden.

© SZ vom 12.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: