Corona:Motivationsparadoxon

Lesezeit: 2 min

Trotz hoher Infektionszahlen ist die Situation nicht mehr so angespannt wie im Frühjahr - doch genau das birgt Gefahr.

Von Nico Fried

Die Zahlen klingen nach Alarm, doch klang es nicht wie Alarmismus, was der Gesundheitsminister zu sagen hatte. Natürlich ist der Zuwachs von mehr als 4000 Corona-Infektionen binnen 24 Stunden, den das Robert-Koch-Institut am Donnerstag vermeldete, ein besorgniserregender Sprung. Dennoch sprach Jens Spahn von Zuversicht, mit der man hierzulande in die kommenden Monate der Pandemie gehen könne. Große Worte wählte der Minister: Ob Deutschland weiter vergleichsweise gut durch die Krise komme, sei für die Gesellschaft als Ganzes ein Charaktertest.

Zwischen Besorgnis und Beruhigung muss die Politik angesichts der neuen Corona-Welle balancieren. Man weiß mehr über das Virus als Anfang des Jahres. Das kann helfen, Einschränkungen wie im Frühjahr zu vermeiden, selbst wenn die Infektionszahlen weiter steigen. Schulen können länger offen bleiben, Friseure müssen nicht mehr schließen, Schutzbestimmungen machen auch in der Wirtschaft vieles möglich. Für die Erkrankten gibt es erste Medikamente, die wirken, es gibt Schnelltests in großer Menge und ausreichend freie Intensivbetten. Es gibt mehr Erfahrungen, um Ausbrüche einzudämmen, und mehr Personal, um Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen. Das Corona-Deutschland im Herbst 2020 ist nicht mehr das aus dem Frühjahr 2020.

Das entspannt die Situation. Doch steckt genau darin auch die Gefahr. Als im Frühsommer die Infektionszahlen niedrig waren, schlich sich das Präventions-Paradoxon in den allgemeinen Wortschatz. Es besagt, dass der Erfolg der Vorsorge dazu führen kann, dass immer weniger Menschen mitmachen, weil das Risiko irgendwann unterschätzt wird. Was dem Land jetzt droht, ist ein Motivations-Paradoxon: Diesmal könnte die Perspektive, dass man mit einem Ausbruchsgeschehen wie im Frühjahr heute besser umzugehen wüsste, schon vorher dazu führen, dass Menschen sich nachlässiger verhalten und das Risiko unterschätzen. In einer von Corona noch immer relativ wenig infizierten, aber von der Pandemie doch erschöpften Gesellschaft noch einmal die Bereitschaft zu wecken, sich einzuschränken, gleicht dem Versuch, an einem Gebrauchtwagen mit verschlissenen Zündkerzen den Motor zu starten. Kann noch mal klappen, muss aber nicht.

Das Verhalten der Politik spielt eine wichtige Rolle. Anders als Jens Spahn, der mit mehreren Experten am Donnerstag einen besonnenen und abgestimmten Auftritt hinlegte, scherten sich die Landesregierungen tags zuvor nicht um Einheitlichkeit. Das Durcheinander bei den Reiseregelungen, das dadurch entstand, hätte man ohne Koordination genauso haben können. Die Konferenzen der Länder mit dem Bund wirken längst nicht mehr wie der Versuch, Überschaubarkeit herzustellen, sondern immer mehr als Bühne für manchen Ministerpräsidenten, sich gerade mit dem Boykott der Vereinheitlichung zu profilieren. Man merkt, dass das Jahr 2021 mit sechs Landtagswahlen näherrückt.

Noch kann sich das Land manchen Wirrwarr leisten. Doch schwer erkennbar ist in dieser Krise nicht nur das Virus an sich, sondern auch der Punkt, an dem die Pandemie doch wieder außer Kontrolle gerät. Und ganz sicher ist dieser Punkt nicht erst erreicht, wenn alle 8500 Intensivbetten, die jetzt noch frei sind, mit Covid-19-Patienten belegt sind. Dann ist es schon viel zu spät.

© SZ vom 09.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: