Cloppenburg:Die sind Deutschland

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Erzkatholisch, familienfreundlich und ein Magnet für Russlanddeutsche, die Verhütungsmittel ablehnen: Ein Porträt der kinderreichsten Stadt der Republik.

Ralf Wiegand

Den ersten Schrei seines Lebens schickt Kevin um 10.22 Uhr durch den in warmes Ockergelb getauchten Flur der Geburtsabteilung im St.-Joseph-Hospital. Seine Mutter hat ihn per Kaiserschnitt zur Welt gebracht, 3950 Gramm und 53 Zentimeter neues Leben sind das für die Statistik.

(Foto: N/A)

Diese Statistik macht Cloppenburg im niedersächsischen Nirgendwo zum Gegenentwurf für den aussterbenden Rest des Landes. 1,3 Kinder bringt jede Frau im Bundesdurchschnitt zur Welt, in Cloppenburg liegt der abstrakte Fruchtbarkeitsindex bei 1,9.

"Ich habe es sogar schon mal auf Seite eins der Bild-Zeitung gebracht", amüsiert sich Bürgermeister Wolfgang Wiese (CDU). Das Blatt stellte den Kommunalpolitiker als "Gewinner des Tages" vor, als habe er den Kindersegen selbst zu verantworten. Immerhin: Wiese ist dreifacher Vater.

Einmal im Jahr kommen die Cloppenburger in die Schlagzeilen - wenn eine neue Statistik über ausbleibenden Nachwuchs in Deutschland veröffentlicht wird. Dann ist Cloppenburg, wie seit Jahren, die positive Ausnahme.

Auch diesmal liegt im Amtszimmer des gut vorbereiteten Bürgermeisters das fast druckfrische Taschenbuch "Die demografische Lage der Nation" auf dem Besprechungstisch. Wiese rast mit dem Daumen durch die Seiten: "Steht viel drin über uns."

Die Frau bleibt daheim

Cloppenburg, Bezirk Weser-Ems, 33000 Einwohner, sieben katholische Kirchen, eine evangelische, kein Theater. Objektiv betrachtet ist es ein Familienparadies. Die weitgehend globalisierungsresistente Tierzucht und deren Folgeindustrie haben dem Kreis zu einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten im ganzen Norden verholfen.

Baugrundstücke gibt es schon für weniger als 50 Euro pro Quadratmeter, überall zerschneiden die Einfamilienhaus-Skylines den Horizont: Himmel, Häuser, Ackerland.

Dazu ist die Gegend erzkatholisch, die Rolle der Frau entsprechend konservativ definiert: Sie bleibt daheim, wenn Kinder kommen.

"Unsere Frauenarbeitsquote ist gering", sagt der Bürgermeister, während der katholische Pastor Stefan Jürgens findet: "Treue als Wert wird hier gesehen und geschätzt." Durch all die Umstände gebe es "eine positive Sicht aufs Leben und auf die Zukunft". Und deshalb: Kinder.

Subjektiv betrachtet "weiß ich eigentlich gar nicht genau, warum ich zurückgekommen bin", sagt Vera Wirth. Die Fotografin hat schon in Hamburg gelebt, ihre Kunden kommen aus München, Frankfurt, Berlin.

Nun betreibt sie ein Atelier an einer Ausfallstraße ins nächste Dorf.

Warum? Sie erzählt von Heimat, "es ist hier netter und persönlicher", und ihre Arbeit weiß auch das Landvolk längst zu schätzen. Wirth-Fotos hängen zuhauf im Flur des Cloppenburger St.-Joseph-Hospitals, dankbare Eltern bringen die Bilder dorthin.

Wirth macht Babyfotos, ganz spezielle, schwarz-weiß, wunderschön. "Früher dachte ich, alle Babys sind gleich." Jetzt weiß sie es besser, das Geschäft läuft gut in Babyboomtown. Um eine Familie zu gründen, sagt Vera Wirth, kämen sie alle wieder zurück. Kinder hat sie nicht.

Und woher kommen die ganzen Babys, wenn sie der Storch nicht bringt? "Wir haben ursächlich nichts damit zu tun", sagt Bernd Bergmann, Verwaltungsdirektor des Cloppenburger Krankenhauses, "wir können nur dafür sorgen, dass die Geburten unter sicheren Bedingungen vonstatten gehen."

800 Geburten pro Jahr

Rund 800 Kinder kommen auf der Entbindungsstation pro Jahr zur Welt, drei Kreißsäle sind dort, alle modern, wohnlich, gemütlich. Es gibt Geburtshocker, Geburtsinseln, Geburtswannen, und Anno Feldmann, der Chefarzt der Abteilung, hat auch am "Kaiserschnitt-Tag" nicht einen Blutfleck auf dem weißen Kittel.

Frauen bekämen lieber ein zweites und drittes Kind, wenn die Erstgeburt nicht traumatisch verliefe, sondern so entspannt wie möglich, sagt Feldmann. Ansonsten sieht er die Sache mit dem Kinderkriegen in Deutschland ziemlich realistisch.

Wo kommen die vielen Kinder her?

"Die Entscheidung Kinder zu bekommen hängt am wenigsten vom Geld ab", sagt er. Kinder kommen oder nicht, und wenn es so sein soll, wird an die Stelle der Kinder die Migration treten: "Dann werden hier irgendwann eben andere wohnen. So einfach ist das."

Mancher ist schon da, Heinrich Pister zum Beispiel, ein kleiner, rothaariger Mann mit lustigen Fältchen um die Augen. Pister muss schmunzeln, wenn er über Cloppenburgs glückliche Kinder Auskunft geben soll. Er kommt aus Wolgograd, dort war er Pastor einer deutschen Gemeinde, jetzt ist er Aussiedlerseelsorger der evangelischen Kirche und selbst ein Spätaussiedler.

Wo kommen nun die vielen Kinder her? Pister: "Ausschließlich von den Russlanddeutschen und da besonders von den Freikirchlern, Baptisten und Pfingstlern. Das ist eben so, auch wenn man das kleinreden will."

Diese Gruppen leben die Bibel im Wortlaut und pflegen einen fast fundamentalistischen Glauben. Dazu gehört auch die Ablehnung von Verhütungsmitteln. "Das Ehebett muss sauber sein", sagt Pister; manche haben mehr als zehn Kinder.

Fürs Kleinreden ist der Bürgermeister zuständig. 6500 Bürger Cloppenburgs gelten formal als Russlanddeutsche, wobei viele von ihnen hier geboren sind. Aber Integration ist ein schwieriges Thema, auf dem Land wie in der Stadt.

Der große Treck zog schon Anfang der neunziger Jahre gen Westen, Cloppenburg ist eines ihrer Zentren geworden. Die Kinder der Russlanddeutschen, sagt Wiese, gäben zwar "den Schluck obendrauf" in der Geburtenstatistik. Mehr nicht.

Große Familien habe es hier schon immer gegeben, fast jeder Cloppenburger kann eine Geschichte dazu erzählen. Die beste kennt Verwaltungsdirektor Bergmann. In seiner Nachbarschaft habe die Familie Meier gewohnt mit 20 Kindern. Den Zweitjüngsten von ihnen hätte niemand Georg gerufen, wie er heißt, "sondern nur ,Meier Neunzehn'".

Heute sind Familien mit mehr als fünf Kindern auch hier selten geworden, aber noch immer vergibt Bürgermeister Wiese gelegentlich eine spezielle Urkunde des Bundespräsidenten. Der übernimmt für jeden siebten Zwerg die Ehrenpatenschaft.

Kinderglück als Marketinginstrument

Das Kinderglück ist längst ein Marketinginstrument. McDonald's hat sich schon vor längerem angesiedelt, nachdem Standortscouts die Bevölkerungsstatistik nach junger Kundschaft durchkämmt hatte. Demnächst zieht H&M mit einem Laden in die betuliche Innenstadt.

"Als junge Stadt verkauft man sich gern", sagt Wiese und zupft die bunte Fliege am Hemdkragen gerade. Gleich hat er einen Fototermin, Cloppenburger Schüler mit ihren französischen Gästen sind da. "Wenn Sie nichts falsch machen wollen als Politiker", sagt der Bürgermeister lächelnd, "dann stellen Sie sich für ein Foto zwischen lauter Kinder."

© SZ vom 27.3.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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