China:Warnungen und Eigenlob

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Den Abwärtsdruck im Nacken: Chinas Staatspräsident Xi Jinping, hier bei der Eröffnungssitzung des Volkskongresses am Dienstag, hat mit sinkendem Wachstum zu kämpfen. (Foto: Qilai Shen/Bloomberg)

Schulden runter, Militärausgaben rauf: Premierminister Li Keqiang gibt beim Volkskongress ambitionierte Ziele vor.

Von Christoph Giesen, Peking

Es ist Volkskongress in China: In den Hotels der Hauptstadt haben sich Delegationen aus dem ganzen Land einquartiert, die Zeitungen produzieren Sonderseiten, und das Staatsfernsehen interviewt mit Vorliebe Abgeordnete, die in Trachten herumspazieren. Für zehn Tage ist die Volksrepublik nun mit sich selbst beschäftigt. Und die Welt? Sie schaut auf eine einzige Zahl: Das chinesische Wirtschaftswachstum. Schwächelt China, schwächelt die Welt. 6,0 bis 6,5 Prozent, das ist die neue Vorgabe aus Peking. Es ist das niedrigste Wachstum seit fast drei Jahrzehnten. "Der Abwärtsdruck auf die chinesische Wirtschaft nimmt weiter zu", sagte Premierminister Li Keqiang am Dienstag in seiner Eröffnungsrede vor knapp 3000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes. Verpackt war diese Warnung wie immer in seitenlanges Eigenlob.

Nach einer Stunde und vierzig Minuten war Li mit der Rede durch, und das Zählen begann. Wie einst die Kremologen in der Sowjetunion werten Journalisten und Wissenschaftler den Rechenschaftsbericht jedes Jahr Wort für Wort aus. So versuchen sie einen Eindruck zu gewinnen, wohin das Land steuert, welche Schwerpunkte die Regierung setzt und wie die Machtverhältnisse innerhalb der Kommunistischen Partei sind: Wie oft erwähnte Li den Staats- und Parteichef Xi Jinping und nannte ihn dabei ehrfurchtsvoll den "Kern des Zentralkomitees der Partei"? 13-mal Xi, sechsmal mit Kern. Wie häufig sprach er von "Xi Jinpings Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung"? Viermal. Kamen Begriffe wie "Innovation" oder "Luftverschmutzung" seltener vor als in den vergangenen Berichten? Vor einem Jahr erwähnte er "Innovation" noch 59-mal, in diesem Jahr sind es 43 Nennungen. Die Luftverschmutzung verschwieg er 2018 komplett, in der aktuellen Rede fiel das Wort immerhin zweimal. Dafür ließ Li diesmal das Projekt "Made in China 2025" unerwähnt.

Das Projekt "Made in China 2025" wird totgeschwiegen, um Washington nicht zu provozieren

In seinem Bericht vor vier Jahren hatte Li diesen Begriff zum ersten Mal eingeführt. Was damals als Schlagwort begann, ist zur wohl größten industriepolitischen Agenda der Welt geworden. Zehn Branchen werden vom chinesischen Staat mit Hunderten Milliarden Euro gepäppelt. Der ungleiche Wettbewerb ist eine Herausforderung für Unternehmen weltweit und einer der Gründe für den Handelsstreit zwischen den Vereinigten Staaten und China. 2018 erwähnte Li gleich zweimal "Made in China 2025". Seit einigen Monaten aber darf die chinesische Presse darüber nicht mehr schreiben - "Made in China 2025" wird totgeschwiegen, um Washington nicht noch weiter zu provozieren. Auch den Handelsstreit selbst erwähnte Li nicht direkt. Stattdessen warnte er allgemein vor Unsicherheiten in der Weltwirtschaft. "Das Wachstum der globalen Wirtschaft verlangsamt sich, Protektionismus und Unilateralismus nehmen zu", sagte Li. "Es gibt drastische Fluktuationen bei den Rohstoffpreisen auf dem Weltmarkt." Chinas Wirtschaft sei mit vielen Herausforderungen konfrontiert. "Nur Wachsamkeit für Gefahren wird Sicherheit gewährleisten."

Im vergangenen Jahr hatte Li etwa 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum als Ziel für 2018 ausgegeben. Am Ende wurden 6,6 Prozent erreicht. "Das Wirtschaftswachstum stimmte mit dem Verbrauch von Elektrizität, Frachtverkehr und anderen Indikatoren überein", sagte Li nun. Was wie ein unscheinbarer Satz klingt, hat eine Vorgeschichte. 2007, als Li noch Parteisekretär der Provinz Liaoning an der nordkoreanischen Grenze war, erzählte er amerikanischen Diplomaten einmal, dass er den offiziellen Zahlen nicht traue. Er schaue sich stattdessen lieber drei andere Indikatoren an: den Energieverbrauch, die Kreditvergaben und die Eisenbahnfrachttonnen. Als Ende 2010 mit der Veröffentlichung der amerikanischen Botschaftsdepeschen Lis Misstrauen bekannt wurde, widmete der Economist Li einen eigenen Keqiang-Index. Alles im Lot, soll das wohl heißen.

Die Wirtschaft wächst vor allem deshalb, weil Staatsbetriebe neue Straßen und U-Bahnen bauen

Künftig liegt die Latte also bei 6 bis 6,5 Prozent. Und auch das ist eine ordentliche Herausforderung. Seit einigen Jahren wächst Chinas Wirtschaft vor allem deshalb, weil die Staatsbetriebe neue Straßen, neue Flughäfen, neue U-Bahnen bauen. Die Folge: Schulden über Schulden. Als 2008 die Olympischen Spiele in Peking stattfanden, lag die Gesamtverschuldung der Volksrepublik - die Verbindlichkeiten aller Privathaushalte und Unternehmen sowie des Staates - bei etwa 145 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aktuelle Schätzungen gehen von deutlich mehr als 300 Prozent aus. Da sich die chinesische Wirtschaftskraft in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat, dürfte sich die Last der Kredite verfünffacht haben.

"Es gibt weiter viele Risiken und verborgene Gefahren im Bereich der Finanzen und anderswo", sagte Li und warnte vor kurzfristigen Konjunkturhilfen. Für das Militär gilt das offenbar nicht: Die Verteidigungsausgaben sollen um 7,5 Prozent steigen. Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen im Südchinesischen Meer sowie Pekings Drohungen gegenüber Taiwan wird der Ausbau des Militärs insbesondere von Nachbarstaaten und den USA mit Sorge beobachtet. Im vergangenen Jahr war der Verteidigungshaushalt bereits um 8,1 Prozent gestiegen.

Gleichzeitig kündigte Li Steuersenkungen an: Bei der Mehrwertsteuer sind es künftig 13 statt 16 Prozent. Auch sollen die Sozialabgaben für Firmen reduziert werden. Wachstum und keine ausufernden Schulden mehr, das ist die Aufgabe der kommenden Jahre. Bloß wie? Eine echte Antwort darauf lieferte Premier Li nicht.

© SZ vom 06.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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