Eine riesige Uhr im Olympiapark in Peking zählt den Countdown herunter. 1000 Tage vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele im Februar 2022 ließ die chinesische Regierung sie feierlich enthüllen. Bei Tag 500 veranstaltete Peking eine Vorfeier an der Chinesischen Mauer. Ein Jahr vor den internationalen Spielen verkündete die Regierung, alle Wettbewerbsstätten seien fertig. Im Gedächtnis bleiben dürfte allerdings Tag 304.
Das war am Dienstag, als Ned Price, Sprecher des US-Außenministeriums, erklärte, ein Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking komme durchaus in Betracht, gemeinsam mit Verbündeten. "Das ist etwas, das wir sicherlich diskutieren wollen." Zwar relativierte er bereits wenige Stunden später seine Aussage. Man habe "keine Ankündigung" hinsichtlich der Spiele gemacht, twitterte Price. 2022 sei noch eine Weile hin, und man werde sich weiterhin "eng mit unseren Verbündeten und Partnern" beraten. Doch trotz aller Beteuerungen: Der Geist ist aus der Flasche. Es ist klar, dass auch in der Biden-Regierung ein Boykott zumindest diskutiert wird.
Es sollen Megaspiele werden. Das Land hat Milliarden in den Bau neuer Austragungsstätten investiert, ganze Skigebiete neu angelegt. In kürzester Zeit hat es sogar eigene Sportler heranziehen lassen, damit das Land, das bisher nicht viel mit Wintersport zu tun hatte, im Februar ganz vorne mit dabei sein kann beim Medaillenspiegel. Vorberichte laufen schon jetzt in Dauerschleife im Fernsehen.
Als 2015 die Entscheidung für Peking fiel, lagen die Winterspiele in Sotschi gerade ein Jahr zurück. Dementsprechend groß war der Ärger über die Vergabe an Peking. Eine Region, in der noch weniger Schnee fällt. Sollen die Alpin-Rennen nicht auf Schotter ausgetragen werden, braucht es im Februar ein ganzes Bataillon an Schneekanonen. Ganze Dörfer mussten zudem umgesiedelt werden, gravierende Folgen für die Umwelt inklusive. Sogar eine neue Schnellzugstrecke hat Peking gebaut, um die große Entfernung zwischen den Austragungsorten zu überbrücken.
Doch die Debatte dreht sich längst nicht mehr um Energieverluste durch Kunstschnee. Denn auch wenn China 2015 für sein Vorgehen gegen Hunderte Anwälte und Aktivisten in der Kritik stand, dürfte sich kaum jemand vorgestellt haben, wie riesig die Empörung heute ist. Dass das Regime in der Lage sein würde, in nur wenigen Jahren mehr als eine Million Menschen in Westchina zu internieren und die ganze Region Xinjiang faktisch zu einem Freiluftgefängnis auszubauen.
Staaten werden nun Athleten in ein Land entsenden, das nicht nur unfrei regiert wird, sondern offen die gesamte liberale Weltordnung infrage stellt. Ein Staat, indem nachweislich schwere Menschenrechtsverbrechen stattfinden. Aktivisten nannten die Pekinger Sommerspiele 2008 "Genozid-Spiele", weil Peking den Sudan trotz des Vorwurfs des Völkermords unterstützte. Jetzt sprechen Parlamente in den Niederlanden und Kanada sowie das Außenministerium der USA mit Blick auf Xinjiang von einem "Genozid".
Peking nennt den Vorwurf des Völkermords "die Lüge des Jahrhunderts - von vorne bis hinten". Doch die Sorge in westlichen Ländern ist groß. Im März erließ die Europäische Union zum ersten Mal seit dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989 koordiniert mit Großbritannien und Kanada Sanktionen gegen vier Behörden und Parteivertreter Chinas sowie eine Einrichtung in der Region Xinjiang, sie alle werden für Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren verantwortlich gemacht.
Auslöser ist auch Pekings Vorgehen in Hongkong, wo es mithilfe eines Sicherheitsgesetzes im Juni 2020 die prodemokratische Bewegung unter Kontrolle gebracht hat. Tausende Aktivisten sitzen in Haft oder warten auf ihre Anklage. Erst vergangene Woche trat das neue Wahlgesetz Pekings in Kraft, das dafür sorgen soll, dass nur noch "Patrioten" in Hongkongs Parlament sitzen. Ein weiterer Schritt zur Entdemokratisierung der Stadt.
Es dürften also die umstrittensten Spiele der jüngeren Geschichte werden. Bisher hat zwar noch kein Land erklärt, sich an einem Boykott wie 1980 zu beteiligen, als Washington keine Sportler aus Protest gegen den russischen Einmarsch in Afghanistan entsandte. Doch die Debatten laufen in vielen Ländern.
Im Februar hatte bereits ein Bündnis von 180 internationalen Menschenrechtsgruppen und Vertretern von Minderheiten in China die Staatengemeinschaft aufgefordert, nicht an den Spielen im Februar 2022 teilzunehmen. "Alles andere wird als Unterstützung der autoritären Herrschaft und der unverhohlenen Missachtung von Bürger- und Menschenrechten durch die Kommunistische Partei Chinas angesehen", hieß es in einem offenen Brief des Bündnisses.
In den USA gibt es schon länger Rufe nach einem Olympia-Boykott - vor allem aus dem konservativen Lager. Nikki Haley, die frühere US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen unter Donald Trump, etwa sagt, es sei kein Geheimnis, dass China die Winterspiele für eine "massive kommunistische Propagandakampagne" missbrauchen wolle. "Wir können nicht einfach zuschauen, wie China die Olympiade benutzt, um seine schrecklichen Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen." Mehrere republikanische Senatoren haben sich ebenfalls bereits für einen Boykott ausgesprochen. Auch die neue Regierung in Washington hat den Druck auf China zuletzt deutlich erhöht. Sowohl der Präsident wie auch Außenminister Antony Blinken kritisierten die Vorgänge in Xinjiang öffentlich.
Für Peking indes steht auch nach Tag 304 rein gar nichts infrage. "Die Politisierung des Sports läuft der olympischen Charta zuwider, schadet den Interessen aller Sportler und der internationalen olympischen Bewegung", sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums am Mittwoch. China sei zuversichtlich, mit allen Parteien erfolgreiche und großartige Spiele sicherstellen zu können. China zumindest ist bereit.