Bundesverfassungsgericht:Karlsruhe kippt Teile des Bundestagswahlrechts

Lesezeit: 2 min

Die Regelungen für die Sitzverteilung bei der Bundestagswahl sind einem Karlsruher Urteil zufolge teilweise verfassungswidrig. Denn diese können bisweilen dazu führen, dass Parteien mit weniger Zweitstimmen mehr Sitze erhalten - eine "Paradoxie", wie Verfassungsrichter Voßkuhle beanstandete.

Das Wahlrecht bei Bundestagswahlen muss geändert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat an das bisher geltende Wahlrecht für Bundestagswahlen für teilweise verfassungswidrig erklärt.

Andreas Voßkuhle, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, beanstandet die teilweise "Paradoxie" des geltenden Wahlrechts. (Foto: Foto: dpa)

Die Verteilung der Überhangmandate muss nach der an diesem Donnerstag in Karlsruhe verkündeten Entscheidung völlig neu geregelt werden. Die Vorschriften zum sogenannten negativen Stimmgewicht verletzten die Gleichheits-Grundsätze, urteilten die Richter in Karlsruhe.

Obwohl die letzte Bundestagswahl damit auf einem Wahlfehler beruhe, werde der derzeitige Bundestag aber nicht aufgelöst. Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber bis zur übernächsten Wahl Zeit: Bis Ende Juni 2011 muss er Regelungen finden, mit denen dieses Paradox künftig vermieden werde. (Az.: 2 BvC 1/07)

Die bisherige Berechnung der Sitzverteilung im Bundestag kann im Einzelfall dazu führen, dass eine Partei wegen der Überhangmandate mit weniger Zweitstimmen mehr Sitze im Parlament erhält. Da dies bei der Nachwahl 2005 in einem Dresdner Bundestagswahlkreis offenkundig geworden war, hatten zwei Bürger Wahlprüfungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt.

"Willkürliche Ergebnisse

Überhangmandate erhält eine Partei, wenn sie in einem Bundesland mehr in den Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete stellt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen. Folglich können viele Direktmandate und wenig Zweitstimmen zu mehr Sitzen im Bundestag führen als ein höherer Zweitstimmenanteil, der aber als Parteienstimme eigentlich über die Fraktionsstärke entscheiden sollte.

Bei der Nachwahl zwei Wochen nach der eigentlichen Bundestagswahl im Herbst 2005 kam dieser Effekt in Dresden zur Geltung. Weniger Zweitstimmen für die CDU brachten damals mehr Überhangmandate und damit mehr Sitze für die CDU im Bundestag, was auch im Wahlkampf der sächsischen Hauptstadt eine Rolle spielte.

Nach den Worten des Zweiten Senats unter Vorsitz des neuen Vizepräsidenten Andreas Voßkuhle führt die Klausel zu "willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung widersinnig erscheinen". Im Normalfall sei der Effekt nicht vorhersehbar. "Auch wenn der Wähler glaubt, mit seiner Stimme eine Partei zu unterstützen, kann das gegenwärtige Berechnungsverfahren dazu führen, dass genau das Gegenteil bewirkt wird."

Dabei handelt es sich dem Gericht zufolge nicht etwa um eine seltene Ausnahme, sondern um ein Phänomen, das unmittelbar mit der Entstehung von Überhangmandaten zusammenhängt. Bremen ist laut Gericht regelmäßig vom "negativen Stimmengewicht" betroffen.

Dieser Effekt hat sich nach den Worten der Richter auch auf die Zusammensetzung des aktuellen Bundestags ausgewirkt. Die SPD hätte beispielsweise einen Sitz mehr im Parlament, wenn sie bei der Wahl 2005 in Hamburg 19.500 Stimmen weniger bekommen hätte.

Der Berliner Rechtsprofessor Hans Meyer, der die Beschwerdeführer vertrat, hält es aber für ausgeschlossen, dass mit einem verfassungsgemäßen Wahlrecht Gerhard Schröder (SPD) immer noch Kanzler wäre. "Das Verhältnis ist gleichgeblieben", sagte er.

Mit dem Urteil hat erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts eine Wahlprüfungsbeschwerde von Bürgern Erfolg.

Dem Gericht zufolge hat der Bundestag bei einer Neuregelung mehrere Möglichkeiten: Beispielsweise kann er das Entstehen von Überhangmandaten unterbinden oder den Modus bei der Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten ändern.

© sueddeutsche.de/AFP/AP/dpa/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Bundesverfassungsgericht
:Die Richter im Porträt

Drei neue Richter hat der Wahlausschuss des Bundestags in das Bundesverfassungsgericht gewählt. Das höchste deutsche Gericht ist verändert damit sein Gesicht: jünger und weiblicher ist es geworden. Alle Bundesverfassungsrichter in Bildern. Porträts von Helmut Kerscher

Jetzt entdecken

Gutscheine: