Bundestags-Linke:Die aus dem Nichts kam

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Jung, weiblich, muslimisch, erfolgreich: Amira Mohamed Ali, Fraktionschefin der Linken im Bundestag, ist unweigerlich auch ein Role-Model. (Foto: Christian Thiel/imago)

Ihre Wahl hat viele überrascht. Doch als Co-Fraktionschefin zeigt Amira Mohamed Ali einiges Geschick dabei, internen Zank zu beruhigen - und durchaus Gefallen an ihrer neuen Macht.

Von Boris Herrmann, Berlin

Wenn ein Büro etwas aussagt über die Chefin, die darin residiert, dann sagt das Büro Amira Mohamed Ali: Es gibt auch ein Leben jenseits der Politikblase. Die Fraktionschefin der Linken im Bundestag hat jedenfalls keinen der üblichen Verdächtigen (Karl Marx, Rosa Luxemburg, Che Guevara, Gregor Gysi) zu Dekorationszwecken aufgehängt und auch keine Wahlkampfslogans oder Gewerkschaftsparolen. Stattdessen hängt da ein lässig rauchender Johnny Cash. Amira Mohamed Ali, 40, will die parlamentarische Sommerpause unter anderem dafür nutzen, um ihre Oldenburger Akustik-Band "Brooklyn Baby" zu reaktivieren. Sie singt Coverversionen von Lana Del Rey, David Bowie und eben Johnny Cash. Mit einem ansteckenden Lächeln sagt sie: "Abgeordnete sind ja auch alle Menschen." Das nimmt sie für sich selbst in Anspruch, mit dieser Haltung hat sie aber in den zurückliegenden Monaten auch politisch einiges bewirkt.

Es wäre übertrieben, zu sagen, die internen Grabenkämpfe bei den Linken seien alle befriedet. Aber seit Dietmar Bartsch die Fraktionsdoppelspitze nicht mehr mit Sahra Wagenknecht, sondern mit Mohamed Ali führt, werden diese Auseinandersetzungen auffällig unauffällig ausgetragen. Das ist schon ein gewaltiger Fortschritt. Wo man sich auch umhört in der Fraktion, im Lager derer, die Mohamed Ali im November 2019 überraschend zu ihrer Chefin gewählt haben oder bei jenen, die gegen sie stimmten, der Tenor ist ähnlich: "Sie weiß, wie Menschen ticken." "Sie hat da ein Händchen." Oder in der skeptischeren Variante: "Sie macht das eigentlich ganz gut."

Niemand hatte sie auf der Rechnung, als sie vergangenen Herbst gewählt wurde

Die so populäre wie streitbare Wagenknecht hatte stets im Zentrum der Verwerfungen gestanden und sich deshalb entnervt aus der ersten Reihe zurückgezogen, auch sie lobt jetzt ihre Nachfolgerin: "Was sie deutlich besser macht als ich: Sie pflegt die Fraktion." In dieser Fraktion gibt es 69 Abgeordnete, aber mindestens 100 Sprecher, wie intern gerne gewitzelt wird. Amira Mohamed Ali hat sich da vor allem als leitende Pflegefachkraft des Teamgedankens Respekt verschafft. Dabei hilft ihr womöglich ihre Berufserfahrung in der Rechtsabteilung eines Automobilzulieferers. Sie sagt: "Ich kann auch gut mit Leuten zusammenarbeiten, mit denen ich jetzt im Privatleben nicht unbedingt einen Kaffee trinken gehen würde." In der Zeit der Corona-Beschränkungen nahm sie sich zweieinhalb Tage Zeit, um die gesamte Fraktion abzutelefonieren: Erzähl' mal, wie geht's denn so? Das kam gut an.

Man kann sagen, dass diese Fraktionsvorsitzende aus dem Nichts kam. Niemand hatte zunächst sie auf der Rechnung, als es im vergangenen Herbst bei den Linken wieder einmal um die Macht ging, nicht einmal sie sich selbst. Sie war ja erst 2015 in die Partei eingetreten und hatte in ihren zwei Jahren als Bundestagsabgeordnete keine öffentlichkeitswirksamen Debatte geprägt. Auch in den oft sehr lauten Fraktionssitzungen soll sie eher zu den Stillen gehört haben. Sie wäre wohl nie auf die Idee gekommen, für einen Posten zu kandidieren, den zuvor politische Schwergewichte wie Wagenknecht, Gysi oder Oskar Lafontaine besetzt hatten. Sie wurde aus machtarithmetischen Gründen dazu überredet. Die beiden großen Lager, personifiziert durch Wagenknecht und Parteichefin Katja Kipping, hatten sich über Monate hinweg gegenseitig blockiert, mehrheitsfähig war da nur jemand, der zu unscheinbar auftrat, um einem Lager zugeordnet zu werden. So kam Mohamed Ali zu ihrer Blitzkarriere. Es gehört zu ihren Stärken, dass sie damit offen umgeht: "Ein Stück weit habe ich auch einen Vorteil dadurch, dass ich neu bin und an den Auseinandersetzungen vorher nicht beteiligt war", sagt sie.

In Talkshows und Interviews merkt man ihr an, dass sie noch nicht in allen Fachgebieten stoffsicher ist. Wo es brenzlig wird, springt oft ihr Co-Vorsitzender Bartsch ein, der etwa schon so lange Politik macht wie Mohamed Ali lebt. Die Gerüchte aber, Bartsch habe ihren Aufstieg nur befördert, um die Fraktion de facto alleine zu führen, haben sich nicht bestätigt. Es heißt, die neue Chefin führe die Fraktionssitzungen mit strengem Regiment. Gleiche Redezeit für alle, damit sich keiner benachteiligt fühlt. War auch nicht immer so.

Mohamed Alis Mutter ist Deutsche, ihr Vater stammt aus Ägypten, sie ist die erste Muslimin an der Spitze einer Bundestagsfraktion. Ihr Traum von einer Gesellschaft, in der das nicht mehr erwähnenswert wäre, liegt noch in weiter Ferne. Deshalb ist Amira Mohamed Ali unweigerlich auch ein Role-Model: jung, weiblich, muslimisch, erfolgreich. Und bei den Linken wächst die Zahl derer, die diese Zufallschefin nachträglich für einen Glücksfall halten.

Nur so ein Detail: Mohamed Ali hat bislang darauf verzichtet, das Büro von Wagenknecht auf der Chefetage im Jakob-Kaiser-Haus zu übernehmen. Sie sitzt weiterhin auf dem Gang zwischen den einfachen Abgeordneten, das habe praktische Gründe, sagt sie. Aber es ist natürlich auch ein Statement, besser gesagt, der bewusste Verzicht auf ein Statement. Sie muss ihre Rolle nicht durch die Position ihres Schreibtisches dokumentieren. Die Eitelkeiten dieses Geschäfts sind ihr fremd. Das heißt aber nicht, dass sie an ihrer neuen Macht keinen Gefallen gefunden hätte. Eine der nächsten großen Auseinandersetzungen bei den Linken wird sich um die Frage der Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl drehen. Ob sie darauf Anspruch erhebt? "Darüber werden wir solidarisch beraten, aber natürlich ist das eine Option. Beim letzten Mal waren die beiden Fraktionsvorsitzenden die Spitzenkandidaten."

Die Zeiten, da sie zur Macht getragen werden musste, sind offenbar vorbei.

© SZ vom 06.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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