So etwas hat Ilja Seifert wohl noch nicht erlebt: Viel Beifall kommt für ihn aus den Reihen von CDU und CSU, besonders kräftig klatscht Unionsfraktionschef Volker Kauder. Das ist ungewöhnlich, denn Seifert ist Abgeordneter der Linkspartei. Als Teenager hatte er einen Badeunfall, seitdem sind seine Beine gelähmt, er sitzt im Rollstuhl. Seifert ist also nicht von Geburt an gehandicapt, aber trotzdem symbolisiert an diesem Donnerstag gerade er, der Behinderte, wie zerrissen die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist.
Noch einmal zur Erklärung: Bei der PID werden im Reagenzglas erzeugte Embryonen vor dem Einpflanzen in den Mutterleib gentechnisch untersucht und gegebenenfalls ausgesondert. Eine Neuregelung steht an, weil der Bundesgerichtshof im Juli 2010 das bisherige Verbot gekippt hatte.
Und vor dieser Frage stehen nun die Abgeordneten des Deutschen Bundestages: Soll die PID zugelassen werden oder nicht? Drei Gesetzentwürfe liegen dem Parlament vor, die von einem kompletten Verbot der PID, über ein Verbot mit Ausnahmen bis zu einer Zulassung mit strengen Auflagen reichen. Im Juni wird das Parlament voraussichtlich über die Gesetzesänderung abstimmen. Doch die Debatte läuft - seit Wochen über Interviews und nun im Bundestag. Es ist eine Kontroverse ohne Fraktionszwang, denn in dieser Causa greift die Lagerbildung ohnehin nicht: Die Anhänger der verschiedenen Entwürfe finden sich in allen Fraktionen.
Der Konservative Kauder und der Linke Seifert etwa sind für ein Verbot der PID. Kauders christdemokratischer Parteifreund Peter Hintze - er führte einst als Helmut Kohls CDU-Generalsekretär die "Rote-Socken-Kampagne" - und die dunkelrote Genossin Petra Sitte plädieren für eine beschränkte Zulassung. Christa Sager von den Grünen ist dafür, ihre Parteikollegin Kathrin Göring-Eckhardt strikt dagegen. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist dafür, die sozialdemokratische Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt dagegen. Die Liste ließe sich so fortsetzen.
Konzentriert und ernst debattiert das Parlament über die heikle Causa, der übliche beißende Spott und Anfeindungen bleiben aus, kein Zwischenruf ist zu hören. Sachlich und doch hoch emotional läuft die Sitzung ab, es gibt keinen Fraktionszwang.
Ethisch und moralisch sind die Argumente vor allem, die Gegner und Befürworter austauschen. CDU-Mann Hintze barmt, erblich schwer vorbelastete Paare sollten ein Recht haben, die PID anzuwenden. Das geböten "das Grundgesetz und die Nächstenliebe". Gegnerin Ulla Schmidt begründet ihre Ablehnung mit der "Würde und Schutzwürdigkeit" der Embryonen. "Bei der PID steht die Selektion am Anfang", warnt Schmidt und ihre Stimme zittert.
"In dubio pro vita!"
Es wird viel im Konjunktiv gesprochen, von Szenarien, positiven, wie furchtbaren. Mit ernsten Mienen lauschen die Abgeordneten den Rednern, die von Kindern mit "Wasserkopf" berichten und von der "Erzeugung eines Rettungsgeschwisterkindes" in Frankreich - als menschliches Ersatzteillager. Befürworterin Ulrike Flach (FDP) beteuert, mitnichten stehe ein "Dammbruch" bevor, Julia Klöckner (CDU) sieht genau diesen Damm brechen und warnt: "Bedenke das Ende!".
PID-Gegner Günter Krings (CDU) postuliert emotional sichtlich erregt: "In dubio pro vita!". Immer wieder führen die Anhänger des Verbots die Würde des Menschen an, die nach ihrer Ansicht bei der "Verschmelzung von Ei- und Samenzelle" beginnt, ins Feld, so zum Beispiel der CSU-Parlamentarier Johannes Singhammer. Auch den sozialen Druck auf Eltern, die behinderte Kinder trotz PID-Möglichkeit bekommen würden, sprechen die Gegner immer wieder an.
Abgeordnete wie die Grüne Priska Hinz dagegen befürworten ein Verbot der PID mit Ausnahmen unter strengen Auflagen. "Wir wollen den Eltern ermöglichen, Kinder zu bekommen, die sonst nur Fehl- oder Totgeburten hätten", sagt Hinz und ihre Aufregung zeigt sich in Stakkato-Sätzen. Es dürfe aber nicht um schwere Behinderungen gehen. Dieser Begriff sei "allzu dehnbar". Diesen Antrag stützen bislang die wenigsten Abgeordneten, allerdings unter anderem Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU), der auch die Sitzung leitete.
Etwa 200 Abgeordnete sind noch unentschieden. Bislang erfahren die Befürworter den größten Rückhalt. Zu den Initatioren gehört auch die SPD-Abgeordnete Carola Reimann. Die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses fordert, sich in die Lage betroffener Eltern zu versetzen, da ist die Rede von "vermeidbarem Leid", für Hintze ist es sogar ein "Gebot der Nächstenliebe". Dass der "Konflikt in der Petrischale" alles andere als unproblemtisch ist, räumt der CDU-Politiker ein. Für Hintze und seine freidemokratische Mitstreiterin Ulrike Flach ist die PID eher akzeptabel als ein späterer, "physisch und psychisch belastenderer Abbruch" (Flach) oder das "Drama einer Abtreibung" (Hintze).
Allen Rednern gemeinsam ist, dass sie einander mit Respekt begegnen: "Jeder von uns ist in dieser Debatte ein Suchender", resümiert der FDP-Abgeordnete Patrick Meinhardt zutreffend. Und SPD-Fraktionschef Steinmeier, ein Befürworter, räumt nachdenklich ein, dass die Argumente der anderen "nicht einfach vom Tisch gewischt" werden könnten. Es gehe schließlich um "letzte Grenzfragen des Lebens".
Eindringlich vermittelt Ilja Seifert, der Linken-Abgeordnete im Rollstuhl, wie Behinderte die Debatte verfolgen. Sie hätten Angst, per Gesetz abgewertet zu werden. Und bevor Parlamentspräsident Lammert den "Kollegen" bittet, zum Ende seiner Rede zu kommen, will der Literaturhistoriker noch etwas Generelles loswerden. "Jeder und jede von uns ist einmalig, und deshalb gehören wir zusammen", sagt Seifert. "Das mag pathetisch klingen, aber darunter ist diese Debatte nicht zu führen."
Volker Kauder klatscht laut und lange.