377 Fälle von vermutetem oder nachgewiesenem Rechtsextremismus sind zwischen 2017 und März 2020 in deutschen Sicherheitsbehörden aktenkundig geworden. In allen Bundesländern bis auf das Saarland wurde gegen Polizisten wegen Rassismus, verfassungsfeindlichen Äußerungen oder Verherrlichung des Nationalsozialismus ermittelt. Innenminister Horst Seehofer (CSU) sieht dennoch "kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus" in Sicherheitsbehörden. "Wir haben es mit einer geringen Fallzahl zu tun", sagte er bei der Präsentation eines Lageberichts des Verfassungsschutzes. 99 Prozent der etwa 300 000 Beschäftigten in Sicherheitsbehörden seien verfassungstreu. Allerdings hätten sie eine Vorbildfunktion. Deshalb sei "jeder Fall eine Schande".
Vor einem Jahr war das Bundesamt für Verfassungsschutz mit einem Lagebericht zu Extremismus in Sicherheitsbehörden beauftragt worden. Befragt wurden Vorgesetzte der 16 Länderpolizeien und der Bundespolizei, von Verfassungsschutzämtern, in Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt, bei Zoll und Militärischem Abschirmdienst. Die Bundesbehörden meldeten 58 Verdachtsfälle, die Länder 319. Dazu kamen 1064 Fälle bei der Bundeswehr. Zwei Beamte waren einer rechtsextremistischen Organisation beigetreten. In zwei weiteren Fällen wurden Kontakte zu solchen Gruppierungen nachgewiesen.
Die kürzlich aufgedeckten rechtsextremistischen Chats bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sowie neuerliche Drohschreiben aus Hessen sind in den Ergebnissen nicht enthalten. Die Fallsammlung endete am 31. März 2020. Der Bericht sei nicht auf dem neuesten Stand, monierte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU). Ende März habe das Land NRW rund 45 Verdachtsfälle der Polizei gemeldet, inzwischen seien es 104. Mit Stand Dienstag seien 37 weitere Hinweise aus den Reihen der Polizei eingegangen, sagte Reul. Diese müssten nun geprüft werden.
Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, betonte, der Lagebericht spiegle nur erste Zahlen wider. Die Analyse werde folgen. Zu klären sei, ob es Verbindungen zwischen den Verdächtigen oder Kontakte zu Dritten gebe. Mitarbeiter, die Zugang zu Waffen und Informationen hätten, würden "zu einer erheblichen Gefahr, wenn sie sich extremistischen Positionen zuwenden".
Seehofer lehnt eine Studie über Rassismus bei der Polizei weiter ab, will aber untersuchen lassen, welches Berufsbild Polizeianwärter haben und welche Gewalterfahrung im Alltag die Polizisten prägen. Der Bericht spiegle "keine Einzelfälle mehr", sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt kritisierte die Oberflächlichkeit der Fallsammlung und forderte eine unabhängige Rassismus-Studie. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke warf Seehofer vor, das Problem zu verharmlosen, wenn er nur auf die Zahl der Disziplinarverfahren und Ermittlungen schaue.