FDP und SPD schwenkten 1992/93 auf den Anti-Asyl-Kurs der Union ein - zumal die Zahl der Asylanträge 1992 auf 438.191 gestiegen war (unter anderem wegen des Kriegs im zerfallenden Jugoslawien). Der Anti-Asyl-Kurs mündete in der Änderung des Asylgrundrechts, drei Tage vor den Solinger Morden. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: "Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch."
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts versuchten im Sommer 1993, trotz der Asylrechtsänderung, Abschiebungen im Einzelfall zu stoppen; etliche Male ließen sie Flüchtlinge noch kurz vor dem Abtransport aus dem Flugzeug holen. Damals erlebten die Karlsruher Richter, wie die Asyldebatte funktioniert. Als ein Massenblatt Hysterie über die richterlichen Entscheidungen geschürt hatte, konnten sich die Richter die Ernte aus dem Postfach holen: pöbelnde Briefe des Inhalts, dass sie "Hunde" seien, denen man den "Schädel einschlagen" solle.
Der Prozess gegen die vier Täter von Solingen dauerte 18 Monate. Es zeigte sich dabei, was sich später bei ausländerfeindlichen Anschlägen immer wieder zeigte: Fehler über Fehler der Ermittlungsbehörden. Das Gericht stand vor einem Abgrund von Dilettantismus: Gesprächsprotokolle waren nicht geführt, Brandschutt war nicht gesichert worden; es gab keine Sachbeweise, keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Dem Kompetenzgerangel zwischen örtlicher Polizei und Bundeskriminalamt waren die simpelsten Ermittlungsgrundsätze zum Opfer gefallen.
Und noch etwas erinnert in Solingen an das spätere Desaster bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU: Ein V-Mann des Verfassungsschutzes spielte schon 1993 eine Rolle. Der Leiter einer Kampfsportschule, die bis zum Brandanschlag Treffpunkt für Rechtsradikale war, galt als führende Figur im braunen Milieu Solingens und war Vertrauensmann des Landesverfassungsschutzes.
Weizsäcker sprach sich für doppelte Staatsbürgerschaft aus
V-Leute und kein Ende: Es ist, als habe sich diesbezüglich in zwanzig Jahren wenig geändert. Anderes hat sich geändert. Es ist heute unvorstellbar, dass sich ein Spitzenpolitiker nach einem Mordanschlag so verhält, wie sich damals Helmut Kohl verhalten hat: Er weigerte sich, an der Trauerfeier teilzunehmen. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verwies auf die "weiß Gott anderen wichtigen Termine", des Kanzlers. Man wolle schließlich nicht "in Beileidstourismus ausbrechen".
Trauermärsche forderten das Verbot rechtsradikaler Organisationen und die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Bundespräsident Richard von Weizsäcker gab den Forderungen bei einer Trauerfeier recht. Es gehe darum, den türkischen Bürgern in Deutschland das Gefühl zu nehmen, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Zwanzig Jahre später wird immer noch über die doppelte Staatsbürgerschaft gestritten: Mit 23 Jahren müssen sich nach geltendem Recht junge Menschen mit ausländischen Wurzeln entscheiden, ob sie den deutschen oder den ausländischen Pass zurückgeben. Das verkennt die Bedeutung der Staatsbürgerschaft. Sie ist ein Integrationsturbo. Der Integrationsgipfel, zu dem Kanzlerin Merkel am Dienstag in Berlin geladen hatte, wäre eigentlich der geeignete Ort gewesen, diesen Turbo laufen zu lassen. Aber Merkel besteht noch immer darauf, den Integrationsturbo abzuschalten, wenn die jungen Leute 23 Jahre alt sind. Ist das der Gipfel?