Blick zurück nach vorn:Psycho '09

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Unser Autor ist seiner Zeit seit je voraus. Drum fasst er für Sie jetzt mal die kommenden vier Jahre der Regierung Angela Merkel zusammen.

Hermann Unterstöger

Dass es keine glatte Geschichte würde, hatte man geahnt, aber dass es so bunt werden würde, wie wir es jetzt, am Abend der Regierung Merkel, vor Augen haben, davon hätte damals, als sie antrat, um das Jahrhundert in die Schranken zu fordern, keiner zu träumen gewagt.

Um genau zu sein, weiß heute, im Herbst 2009, so gut wie niemand mehr, was er seinerzeit geträumt hatte, ja ob er überhaupt geträumt hatte - außer im Sinne der Redensart "Ich glaub, ich träum", bezogen auf das Gehakel und Gezerre nach einer Wahl, deren Knappheit dem Souverän da und dort als Unreife, wenn nicht gar als Bosheit ausgelegt wurde.

Wie man sich erinnert, dauerte es ja einige Zeit, bis Angela Merkel nach ihrer Nominierung wirklich aus der Deckung kam. An die vierzig Talk-Shows, in denen es offen oder verdeckt um nichts anderes ging als um die Frage, ob "so eine", nämlich eine Frau, "so was" könne, nämlich regieren, ließ sie ungenutzt verstreichen.

Weder ging sie selbst hin noch entsandte sie wen aus ihrer Entourage, und wann immer Stoiber wissen ließ, dass er gern für sie in den Ring steige, brach sie eine Krisensitzung vom Zaun. In den Absagen hieß es meist, dass genug geredet sei und man allmählich die Ärmel aufkrempeln müsse. "Da habt ihr es jetzt", röhrte Ludwig Stiegler in jedes freie Mikrophon, "nunc habetis, aber auf mich hat ja keiner hören wollen."

Die Metapher von der bleiernen Zeit

Die Soziologen hatten damals eine verdammt gute Zeit, weil sie alle Welt mit dem tokenism traktieren konnten, einer aus Amerika stammenden Lehre, der zufolge dominierende Gruppen Kritik an ihrer Dominanz gern dadurch unterlaufen, dass sie Vertreter bislang ausgeschlossener Gruppen in ihre Reihen aufnehmen. Da sind sie moralisch fein heraus und können ihre fiesen Strukturen trotzdem behalten. Im Lichte dieser Theorie, so hieß es, sei Angela Merkel ein token für die politisch angeblich schwachen Frauen und habe in der Berliner Männerbündelei keine Chance.

Das eierte bis ins Frühjahr 2006 so dahin, und die ersten Redakteure holten schon die Metapher von der bleiernen Zeit aus dem Fundus, um bei der allfälligen Markierung der neuen Ära ja nicht zu spät zu kommen. Doch wer schildert ihre Überraschung, als Kanzlerin Merkel genau da die Presse zu einem vorgezogenen Osterspaziergang um den Templiner Stadtsee bat und den 4000 Journalisten, die sie umdrängten, schon am Treffpunkt Pionierbrücke eröffnete, dass sie Spaß habe. Wie das gemeint sei, wollte einer vom Spiegel wissen, und sie drauf: "Na, wie wohl?" Dann zog sie ab wie weiland Bundespräsident Carstens, wenn er der Presse zeigen wollte, was eine deutsche Wanderharke ist.

Die Wanderung war so terminiert gewesen, dass sie noch in die Osterblätter kam und ebenso ausführlich wie kontrovers kommentiert wurde (auch in diesem Blatt, das wie oft in Fällen politischer Wegscheiden zwei Leitartikel platzierte, deren einer nach dem "Quo vadis?" fragte, während der andere das "Cui bono?" herausarbeitete). Den Archiven entstieg Merkels nach der Nominierung getane Äußerung, es werde "Spaß machen, wieder etwas gestalten zu können", und mancher Analytiker kam zu dem Schluss, die Kanzlerin habe wohl zum zweck- und damit wertfreien Spaß gefunden, eine bisher ihrem Vorgänger Gerhard Schröder vorbehaltene Domäne.

Dass diese Aneignung auch tiefenpsychologisch durchgenudelt wurde, versteht sich. Sabine Christiansen drückte eine Runde zu dem Thema "Politik: Spaß oder was?" ins Programm und bestellte dazu außer Koch und Müntefering auch Christoph Schlingensief ein, der eine afrikanische Holzmaske trug und bekannte, dass er seit ein paar Wochen als "privilegierter Zimmerherr" bei den Merkels wohne und im Übrigen Kulturminister werden solle.

"Orden wieder den tierischen Ernst" für Merkel

Die bleierne Zeit wurde schnell weggeräumt, Konjunktur hatte nun das Bild von der Leichtigkeit des Seins, deren literarisches Epitheton "unerträglich" allenfalls ultralinke Blätter in ihren Schlagzeilen mitlaufen ließen. Merkel brach zu ihrem lange verschobenen Staatsbesuch in die Türkei auf, wo sie bei einem Essen mit Ministerpräsident Erdogan für große Heiterkeit sorgte, als sie ihm anbot, die Redlichkeit ihrer Gesinnung dadurch zu untermauern, dass sie ihm bis zum Ende der EU-Beistrittsverhandlungen gern einige ihrer Minister als Geiseln überlasse - von welcher Seite der Koalition, das könne er sich schon denken.

Dass Angela Merkel für diese "Freundlichkeitsoffensive" ein Jahr später den "Orden wider den tierischen Ernst" bekam, gehört mittlerweile zur Geschichte des "Neuen Deutschen Humors". Man nennt ihn so im Unterschied zu früheren diesbezüglichen Epochen und besonders zur Ära jener ominösen Spaßgesellschaft, die nach Ansicht von Experten in der Frühzeit der Regierung Schröder endete und möglicherweise diese mit sich in den Abgrund gerissen hat.

Als der Orden in Aachen verliehen wurde, war unter den Ehrengästen auch Edmund Stoiber, der es sich als früherer Ordensritter nicht nehmen ließ, seinen in zwei Berliner Dienstjahren nur unwesentlich spitzer gewordenen Humor glänzen zu lassen und der Chefin im Rahmen einer wie extemporiert wirkenden kleinen Büttenrede die Zusammenlegung aller Ministerien unter seiner Führung und sprichwörtlichen Kompetenzkompetenz anzuraten, mit Ausnahme des Kanzleramtsministeriums, "damit du, liebe Ordensschwester Angela, noch ein bisschen Auslauf hast". Ludwig Stiegler sagte dazu auf mehreren TV-Kanälen, er hätte gute Lust, sich totzulachen, wäre das angesichts drohender Parität nicht per Fraktionszwang untersagt worden.

Auf die großen Linien der Außenpolitik wirkte sich die neue Lockerheit günstig aus, wenngleich in den konservativeren Zirkeln um George W. Bush unter der Hand die Frage ventiliert wurde, ob man, indem man dabei aus diplomatischem Zweckdenken mitmache, nicht am Ende die nach wie vor virulente Achse des Bösen schmiere und gelenkig erhalte.

Bush war für derlei Bedenken zwar empfänglich wie eh und je, gab aber nach außen den Liberalen, und als ihn die Kanzlerin bei einem ihrer nunmehr regelmäßigen Besuche in Washington im Scherz fragte, ob der Herr ihm wieder mal eine Botschaft habe zukommen lassen, antwortete er: "Sure, Angie. Eben sagte Gott zu mir, mach dich eilends auf, George, geh hinüber zur Bar und sieh zu, dass du für deinen Gast, die deutsche Regierungschefin, einen Drink und was zu beißen besorgst. Und Gott hat bei uns die Richtlinienkompetenz." Da erhob sich im Weißen Haus das, was bei den Göttern laut Homer "unendliches Gelächter" hieß, und die deutsche Presse tändelte anderntags mit Wortspielen à la "Wie Angie auf den Bush klopft, so hallt es wider".

Wladimir Putin und seinem Apparat blieben solche Umtriebe nicht nur nicht verborgen, sie gedachten sich sogar daran zu beteiligen, und man muss es Gerhard Schröder heute noch hoch anrechnen, dass er seinem russischen Freund ein paar Tipps gab und die richtigen Türen wo nicht öffnete, so doch wenigstens zeigte. Schröder zog damals um die Welt, hielt für Honorare, die nur knapp unter denen Bill Clintons lagen, Reden zu "Politik und Kairós", "Das Basta als Gestaltungselement der Politik" und verwandten Themen und war überhaupt drauf und dran, der Gralsbruderschaft der Elder statesmen die Butter vom Brot zu nehmen.

Das Licht am Ende des Weges/Tunnels/Korridors

Das politische Tagesgeschäft hatte, wie er sagte, in seiner gegenwärtigen Lebensplanung nicht die "allererste Priorität", doch ließ er sich von Müntefering, notfalls auch von Stiegler, über das Nötigste auf dem Laufenden halten, um fern vom Rummel ("procul negotiis", wie Stiegler beflissen hinzuzufügen pflegte) nicht einzurosten.

Die Wirtschaft nahm den Trend verständlicherweise mit Genugtuung zur Kenntnis und tröstete über die Tatsache, dass von Wachstum nichtsdestoweniger keine Rede sein konnte, mit dem Argument vom Ozeanriesen hinweg, der auch noch einige Zeit in seiner Spur dahinlaufe, obwohl der Kapitän das Steuer längst herumgerissen habe. Mehr denn je war vom Licht am Ende des Weges/Tunnels/Korridors die Rede, von der Talsohle als Durststrecke sowie davon, dass, wer jetzt den Gürtel lockerer schnalle, leicht seine Hose verliere.

Das unter solchen Reden mitgrummelnde Tremolo der Zuversicht kam bei den Normalbürgern ebenso gut an wie bei den Analysten, die ihren Weizen plötzlich wieder blühen sahen und den Dax hochjubelten, dass es eine Art hatte. Altbundespräsident Herzog fühlte sich ebenfalls bestätigt und warf ein weiteres Buch seiner überaus erfolgreichen Ruck-Serie auf den Markt: "Ruck III - Nun hat er gegriffen."

Nicht jeder ließ sich freilich ins Bockshorn jagen. Leute wie der unverdrossen von Talk zu Talk eilende Parteienforscher Jürgen W. Falter brachten es auf den sog. Punkt: "Es ist nichts los, aber der Laden brummt." Das Land war davon wie betäubt, ein leichter Rausch lag über allem, und dieser als angenehm empfundenen Besoffenheit war es wohl zu danken, dass keiner mehr auf Kanzlerin Merkel achtete, die den Globus mit ihren Jokes bezauberte, in ihrem Inneren aber eine Wandlung durchmachte.

Heute, wo das alles vorbei ist, sind die Psychologen noch mit der Deutung dieser Metamorphose beschäftigt. Eine ihrer Thesen läuft darauf hinaus, dass Angela Merkel unbewusst darunter litt, Gerhard Schröder aus dem Rennen geworfen zu haben, weswegen sie irgendwann in seine Rolle zu schlüpfen begann - ein Vorgang wie in Hitchcocks Film "Psycho". Stiegler sagte später, es gebe bekanntlich nichts Neues unter der Sonne, "nil novi sub sole", und er habe es genauso kommen gesehen. "Aber auf mich hört ja keiner."

Es ereignete sich vor zwei Monaten, in der Plenarsitzung, die wegen einer weiteren Erhöhung der Mehrwertsteuer, der vierten in dieser Legislaturperiode, einberufen worden war. Bleicher als sonst, schlecht gekämmt und gänzlich unlustig schritt Merkel im Pulk der Mitarbeiter und Presseleute zum Plenarsaal, sah weder nach links noch nach rechts, und als Stoiber aus einem Seitenflur kam und in bemühter Laune etwas von brutto und netto zu ihr hinüberrief, sah sie ihn mit einem Blick an, der ihn wünschen ließ, er wäre nie aus Bayern weggegangen.

Schröder bricht Vortragsreise ab

Dann trat sie in den Saal, ging zügigen Schrittes zum Bundestagspräsidenten, dem sie etwas ins Ohr flüsterte, um sich sofort ans Rednerpult zu begeben, das Mikro etwas herunterzubiegen und die Abgeordneten leicht maulend davon in Kenntnis zu setzen, dass sie in drei Wochen die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes stellen werde.

Die Verwirrung war so groß, dass sogar Bundespräsident Horst Köhler davon ergriffen wurde und auf eine Fangfrage aus Journalistenkreisen antwortete, ja, er glaube, die Fernsehrede von damals durchaus noch einmal verwenden zu können. Beim Bundesverfassungsgericht kamen drei Richter um ihre Beurlaubung ein, und in den Meinungsforschungsinstituten war der Begriff "Unschärferelation" plötzlich en vogue.

Von Schröder aber war zu hören, dass er eine Vortragsreise abbrach und heimfuhr. "In Eilmärschen", wie Stiegler wissend sagte, "magnis itineribus".

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