Bis zu 1000 Tote bei Massenpanik in Bagdad:Zertrampelt, erstickt, ertrunken

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Gerüchte über Attentäter und ein Granatenangriff lösen eine Katastrophe aus, die den Hass zwischen den Religionsgruppen noch verstärken wird.

Tomas Avenarius

Kairo - Tote lagen an der Straße und auf der Brücke, Leichen trieben im brackig-braunen Tigriswasser. Auch auf den Gängen der Krankenhäuser Bagdads fanden sich die Zertrampelten, Erstickten und Ertrunkenen. Dazwischen versuchten verzweifelte Angehörige, die Toten zu identifizieren: klagende und weinende Frauen in schwarzen Umhängen, schreiende Männer, die sich mit den Fäusten auf Kopf und Leib schlugen, hilflos wirkende Polizisten und erschöpfte Ärzte, die sich um die Hunderten Verletzten bemühten. Am Tigrisufer wateten Menschen ins Wasser, um die vorbeitreibenden Leichen zu bergen.

Die Massenpanik kostete hauptsächlich Frauen und Kinder das Leben - gerade Frauen können in arabischen Ländern nicht schwimmen. (Foto: Foto: dpa)

Die Massenpanik unter den schiitischen Pilgern, bei der in Bagdad am Mittwoch bis zu 1000 Menschen umkamen, hatte etwas für den Irak bezeichnend Makabres: ein Land im Krieg, getroffen von einer Katastrophe, die schon in Friedenszeiten kaum zu verkraften gewesen wäre.

Und deren Konsequenzen das zerrissene Land aller Voraussicht nach noch tiefer in Leid und Verzweiflung treiben wird. Denn auch wenn die Massenpanik ein Unfall war, so ist doch klar, dass die von sunnitischen Untergrundkämpfern nur zwei Stunden zuvor auf die Gläubigen abgefeuerten Granaten zur Katastrophe beigetragen haben und so den Hass zwischen den irakischen Religionsgruppen verstärken werden.

"Vor allem Frauen und Kinder"

Das Unglück war auf einer Brücke über dem Tigris entstanden, als sich etwa drei Millionen schiitischer Gläubiger im Norden der irakischen Hauptstadt in Richtung auf die Grabmoschee eines berühmten schiitischen Heiligen zubewegten. Dann kam das Gerücht auf, in der Menschenmenge befänden sich zwei sunnitische Selbstmordbomber.

Es sei sofort zu einer Massenflucht gekommen, berichteten Augenzeugen im Fernsehen. Vor allem Frauen und Kinder seien totgetrampelt worden.

Arabische Fernsehstationen berichteten, die verängstigten Menschen seien in den Tigris gesprungen und ertrunken. Im Irak können viele Frauen, wie in den anderen arabischen Ländern, nicht schwimmen. Die schiitischen Gläubigen waren im Bagdader Stadtteil al-Kazimija zusammengekommen. Anlass war der Todestag des hoch verehrten siebten schiitischen Imams Musa al-Kazim.

Jemand habe geschrieen, es seien Selbstmordbomber auf der Brücke, berichtete ein Augenzeuge. Daraufhin seien die Massen davongerannt. Schließlich sei das Geländer der Stahlbrücke unter dem Druck der Menschenmassen zusammengebrochen. Dabei seien weitere Menschen in den Fluss gestürzt.

Die meisten Toten seien Frauen und Kinder. Die große Zahl weiblicher Opfer wurde damit erklärt, dass viele der männlichen Pilger die Nacht am Al-Kazim-Schrein verbracht hätten. Das aber ist Frauen verboten. Deshalb seien am Vormittag vor allem Frauen und kleine Kinder unterwegs zur Moschee gewesen.

Brücke von US-Polizisten gesperrt

Direkt nach der Katastrophe wurden sofort Vorwürfe gegen die US-Truppen und die irakische Polizei erhoben, welche die Prozession sicherten. Ein erzürnter Augenzeuge sagte dem britischen Sender BBC, US-Soldaten hätten eine von der Brücke wegführende Straße gesperrt und trotz der Massenflucht nicht freigegeben. Dies habe die Panik verstärkt. Die wachestehenden irakischen Polizisten hätten in die Luft geschossen und die Menschen noch mehr verängstigt.

Die schiitischen Gläubigen waren ohnehin nervös gewesen. Offenbar hatten sunnitische Untergrundkämpfer zwei Stunden vor der Katastrophe vier Granaten auf den Platz vor der Al-Kazim-Moschee gefeuert. Dabei waren 16 Menschen getötet und mehr als 30 verletzt worden. Am selben Morgen waren auch in al-Azamija, einem anderen Schiiten-Viertel, Pilger beschossen und sechs Menschen verletzt worden.

Angeblich eine Racheaktion

Möglicherweise handelte es sich bei den Angriffen auf die Pilger um eine Racheaktion. Die US-Luftwaffe hatte am Vortag angebliche Verstecke der sunnitischen Rebellen und der mit ihnen verbündeten Kämpfer des Terrornetzwerks al-Qaida nahe der syrischen Grenze bombardiert. Mindestens 56 Menschen waren getötet worden.

Unter ihnen waren Zivilisten. So oder so fällt die Bagdader Pilger-Katastrophe in eine Zeit wachsender, fast bürgerkriegsähnlicher Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten. Die Religionsgruppen streiten um die neue Verfassung, von der sich die Sunniten benachteiligt sehen. Auch ohne Verfassungsstreit häufen sich die Übergriffe zwischen den Religionsgruppen.

Die sunnitischen Untergrundkämpfer, an deren Seite Al-Qaida-Mitglieder kämpfen, haben vor Monaten erklärt, nicht mehr nur gegen die US-Besatzungstruppen kämpfen zu wollen. Man betrachte auch die Schiiten und Kurden als Feinde.

© SZ vom 1.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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