Berlin:"Zu uns kommen Kinder immer öfter hungrig"

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Eine Berliner Sozialpädagogin über die Folgen von Armut, ihre Erfahrungen mit Problemfamilien und die Grenzen der Sozialarbeit.

Monika Maier-Albang

Deutschland diskutiert über Armut und Gewalt gegen Kinder. Susanne Bräuer kennt beides: Sie arbeitet als Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendhilfe bei einem freien Träger in Berlin. Wie groß die Verunsicherung bei den Sozialbehörden momentan ist, kann man daran ablesen, dass unsere Gesprächspartnerin ihren richtigen Namen nicht genannt haben will.

SZ: Hat die Not im Land so zugenommen, dass wir Kinder nicht mehr schützen können?

Bräuer: Offenbar. Seit Hartz IV spüren wir eine immer kältere Atmosphäre: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Menschen sind unzufrieden mit ihren Zukunftsaussichten. Viel Frust wird an den Kindern abgelassen. Zu uns kommen die Kinder auch immer häufiger hungrig; denen müssen wir erst mal eine Pizza aufwärmen, bevor wir arbeiten können.

SZ: Haben die Eltern kein Geld für Essen, oder geben sie es für Anderes aus?

Bräuer: Das kann man so nicht sagen. Viele Eltern kommen einfach mit ihrem Alltag nicht zurecht. Da gibt's halt immer Currywurst von der Bude. So ein Verhalten tradiert sich über Generationen.

SZ: Wie reagieren die Familien auf Ihre Verbesserungsvorschläge - dankbar oder abweisend?

Bräuer: Mal so, mal so. Das erste Treffen mit den Eltern findet im Jugendamt statt, das federführend ist. Der Kollege übernimmt meist den Schwarzen Peter, tritt also drohender auf, als ich das tue.

SZ: Sie sollen ja die Vertrauensperson sein.

Bräuer: Genau. Wobei man sich das nicht so vorstellen darf, dass wir in der Familie Kaffee trinken oder fernsehen. Es gibt einen Hilfeplan, in dem genau festgelegt ist, welche Ziele verfolgt werden sollen. Früher hat man sich erst mal darum bemüht, das Selbstwertgefühl der Eltern zu stärken, ihnen Orientierung im Alltag zu vermitteln. Heute müssen wir hart an den Zielen arbeiten.

SZ: Wie verfahren Sie, wenn eine alkoholkranke Mutter Hilfe nicht annimmt?

Bräuer: Dann sitzt man relativ schnell mit der Mutter wieder im Jugendamt. Welchen Schritt der Sozialarbeiter dort unternimmt, hängt davon ab, was vorliegt. Geht ein Kind nur nicht zur Schule, kann man entspannter damit umgehen als wenn Gefahr im Verzug ist. Dann wird man das Kind schnell in einer Pflegefamilie oder im Heim unterbringen.

SZ: Im Fall Kevin in Bremen scheint es den Sozialarbeitern aber wichtiger gewesen zu sein, dass der Vater sich gut dabei fühlt, seinen Sohn bei sich zu haben.

Bräuer: Mir ist das schleierhaft, wie man so entscheiden kann. Ich sitze jede Woche mit Mitarbeitern von Familienberatungsstellen, vom Jugendamt und anderen freien Trägern zusammen, wo wir die schwierigen Fälle gemeinsam besprechen. So etwas wie in Bremen kann eigentlich nicht passieren.

SZ: Haben Sie auch mal erlebt, dass aus Kostengründen entschieden wird, ein gefährdetes Kind nicht ins Heim zu schicken?

Bräuer: Nein. Wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass ein Kind gefährdet ist, wird gehandelt. Und ich bin jetzt seit über 30 Jahren in dieser Arbeit.

SZ: In Bremen wird nun gegen Mitarbeiter im Jugendamt ermittelt. Steht man als Sozialarbeiter ständig mit einem Fuß im Gefängnis?

Bräuer: Ein bisschen haben wir schon das Gefühl. Die Stimmung bei uns im Amt ist ängstlicher geworden.

SZ: Das könnte die positive Konsequenz haben, dass man noch genauer auf die Kinder schaut.

Bräuer: Wir waren Gott sei Dank noch nie in so einer Situation. Aber natürlich denkt man ständig: Das kann dir morgen auch passieren. Nur: Mit Überängstlichkeit und Panik ranzugehen, bringt ja auch nichts.

SZ: Wird man sensibler für das eigene Handeln, wenn wieder ein Kind gestorben ist?

Bräuer: Vor einigen Jahren waren wir sicher toleranter in manchen Dingen. Wenn eine Wohnung verdreckt und die Polizei schockiert war, dachte man vielleicht: Na ja, für ihre Verhältnisse hat die Mutter doch schon aufgeräumt. Es ist eine Frage der Sicht.

SZ: In der Regel kommt ein Sozialpädagoge selbst aus bürgerlichen Verhältnissen. Wie versetzt man sich in das Denken eines drogenabhängigen Vaters?

Bräuer: Man muss Empathie entwickeln.

SZ: Aber auch nicht zu viel.

Bräuer: Ich muss natürlich professionell arbeiten, Distanz zu den Klienten halten. Entscheidend ist, dass die Familien selbst erkennen, was sie verändern wollen. Wenn ich einer Frau die Schrankwand umstelle, weil ich finde, dass es hässlich aussieht, bringt das nichts. Dann steht der Schrank am nächsten Tag da wie vorher.

SZ: Ein frustrierender Beruf?

Bräuer: Sehen Sie, ich habe gerade einen Mann aus dem Obdachlosenheim geholt, der jetzt mit seinem Sohn zum ersten Mal in seinem Leben eine eigene Wohnung hat. Der Mann ist aufgeblüht. Das freut einen dann auch.

SZ: Kapituliert man irgendwann vor dem Elend und sagt sich: Es gibt eben immer welche, die durchs Raster fallen?

Bräuer: Nein, wir geben niemanden auf. Aber um diese Arbeit durchhalten zu können, ist es wichtig, dass man viel über sich selbst weiß und gefestigt ist.

SZ: Damit man auch erkennt, wann man belogen wird.

Bräuer: Ja. Wenn man das merkt, muss man die Klienten damit konfrontieren, und es muss Konsequenzen haben. Meist ist es aber kein bewusstes Lügen. Es ist eher so, dass die Menschen in einer anderen Realität leben. Ich hatte mal eine Familie, da war die Mutter magersüchtig, und ihr Kleinkind war fast am Verhungern. Aber sie hatte kein Gefühl dafür.

SZ: Haben Sie genügend Zeit für solch schwierige Familien?

Bräuer: Wir haben zwar ein Stundenkontingent und können uns selbst einteilen, mit welcher Familie wir wie viel arbeiten. Aber es steht weniger Geld und Zeit zur Verfügung, und gleichzeitig wachsen die Ansprüche. Eigentlich ist es ein Wahnsinn.

SZ: Wie schaffen Sie die Arbeit dann?

Bräuer: Wenn es ganz eng wird, versuchen wir, mehr Stunden für eine Familie zu bekommen. Aber letztlich gehen die Einsparungen auf Kosten jener Familien, wo es noch nicht so brennt. Wir wünschen uns oft, stärker präventiv arbeiten zu können. Wir brauchen Sozialarbeit an Schulen, aber keiner hat Geld dafür. Ich bin eigentlich ein positiv denkender Mensch. Aber momentan ist die Lage schon sehr schwierig. Manchmal sage ich im Scherz: Ich würde lieber in einem Juwelierladen arbeiten, weil man sich da mit den schönen Dingen dieser Welt beschäftigt.

© SZ vom 18.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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