Berlin:Über Sterben und Leben

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Jenseits von Parteipolitik und Fraktionszwang debattieren die Abgeordneten des Bundestags darüber, wie die Organspende in Deutschland künftig geregelt werden soll. Es geht um große Fragen: Wem gehört der Mensch?

Von Henrike Roßbach, Berlin

„Der Mensch gehört sich selbst, ungefragt, ohne Widerspruch“. Mit diesen Worten warb die Grünen-Chefin Annalena Baerbock (Mitte, bei der Abstimmung) für ihren Vorschlag zur Organspende. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Irgendwann, die Debatte ist halb rum, wird es totenstill im Bundestag. Die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann hat gerade von ihrem Mitarbeiter erzählt, 33 Jahre alt, bei dem eine lebensbedrohliche Krankheit festgestellt wurde, einen Monat nachdem er Vater geworden war. Drei Monate lang habe er gewartet, auf den Anruf, auf das Spenderorgan. "Aber der Anruf kam nicht. Er starb am 17. Juli."

Es sind die Toten, die Sterbenden und die Kranken, die an diesem Donnerstag mit dabeizusitzen scheinen, unter der Reichstagskuppel, wo die Abgeordneten ohne Fraktionszwang darüber entscheiden, wie die Organspende künftig geregelt sein soll. Die neunjährige Lilly etwa. Seit 19 Monaten warte sie auf ein Spenderherz, sagt der SPD-Abgeordnete Matthias Bartke. "Sie hat mir gesagt: Wenn man tot ist, braucht man doch seine Organe nicht mehr. Und ich finde, sie hat recht." Oder die Freundin der Linken-Abgeordneten Kathrin Vogler, die eine Organspende braucht, um weiterzuleben, die sich aber unwohl fühle bei dem Gedanken, dass es künftig keine freie Entscheidung mehr sein könnte, seine Organe zu spenden.

Viele müssten sterben, weil sich andere nicht enscheiden wollten, beklagt ein SPD-Abgeordneter

Connemann und Bartke werben für die sogenannte Widerspruchslösung von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Jeder, so der Vorschlag, solle künftig als Spender gelten, außer er hat zu Lebzeiten widersprochen. Vogler dagegen setzt sich für die erweiterte Zustimmungslösung der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock ein. Die Bürger, so der Vorschlag, sollen im Bürgeramt und beim Hausarzt regelmäßig darauf hingewiesen werden, dass sie sich online registrieren lassen können.

Einer aber taucht nicht nur in einer Rede auf, in der von Claudia Schmidtke (CDU), sondern auch auf der Besuchertribüne des Bundestags.

Marius Schaefer, 19 Jahre alt, der nach der Entscheidung sagen wird, das sei ein Schlag ins Gesicht. Zunächst aber geht es im Plenum darum, dass es in 22 Ländern Europas eine Widerspruchslösung gibt, dass Deutschland Schlusslicht ist bei Spenderorganen, und ob es die Widerspruchslösung ist, die zu mehr Spenden führt, oder die bessere Organisation in den Kliniken. Es wird die Frage aufgeworfen, ob Schweigen als "Ja" gelten darf. "Viele müssen sterben, weil andere sich nicht entscheiden wollen. Der Gesetzgeber darf das nicht zulassen", sagt Bartke von der SPD. "Was ist, wenn ich mich noch nicht entscheiden kann", hält Otto Fricke von der FDP dagegen, "mein Verstand sagt Ja, mein Gefühl sagt Nein, meine Angst sagt: auf keinen Fall. Dann muss es möglich sein zu schweigen, ohne dass der Staat in meine Rechte eingreifen kann." Auch Baerbock sagt: "Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst." SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach dagegen warnt: "Es ist unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht bereit zu sein, zumindest Nein zu sagen, wenn man nicht bereit ist zu spenden. "

Spahn sitzt während der Debatte nicht auf der Regierungsbank, sondern inmitten seiner Fraktionskollegen, fünfte Reihe, Dritter von rechts. Er will wohl zeigen, dass auch er hier nur als Abgeordneter abstimmt, nicht als Minister. Er redet als Letzter; nach Hermann Gröhe (CDU), seinem Vorgänger im Ministerium, der ein Gegner der Widerspruchslösung ist.

Als Spahn ans Rednerpult tritt, hüllt ihn durch eine glückliche Fügung genau in diesem Moment die Sonne, die durch die gläserne Kuppel in den Plenarsaal scheint, in goldenes Licht. "Jeder von uns ist gerne potenzieller Empfänger", sagt Spahn, und dass sich dann auch die Frage stelle, ob nicht auch jeder potenzieller Spender sein solle, außer er sage ausdrücklich Nein. "Ist das eine Zumutung? Ja, aber eine, die Menschenleben rettet." Dann wandert die Sonne weiter, das goldene Licht ist weg, und es wird nicht mehr lange dauern, bis Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) Spahns Niederlage verkündet.

Die Kanzlerin ist die erste, die ihre Stimmkarte in die mittlere Urne im Bundestag steckt. Sie stimmt für die Widerspruchslösung, aber am Ende ist sie nur eine von 292 Abgeordneten; 379 sind dagegen. In der zweiten Abstimmung bekommt der Baerbock-Entwurf eine Mehrheit.

Später sagt Spahn, dass es in dieser Sache nicht um Gewinnen und Verlieren gehe. Für Marius Schaefer aber, den jungen Mann auf der Tribüne, fühlt es sich doch sehr nach einer Niederlage an. Er trägt einen Mundschutz, er darf sich nicht anstecken, denn er lebt mit einem transplantierten Organ. Allerdings keinem, das er über Eurotransplant bekommen hat. Seine Eltern haben ihm jeweils einen Teil ihrer Lunge gespendet, es war die erste Lungentransplantation in Deutschland mit einer Lebendspende, und es war seine letzte Chance. "Das Recht auf Leben sollte deutlich mehr zählen als das Recht darauf, unversehrt begraben zu werden", sagt er.

Zum Ende seiner Rede hatte Spahn gewarnt: "Die Wahrheit ist: Der andere Gesetzentwurf ändert an der Lage nichts." Danach, vor den Kameras, sagt er: "Ich würde gerne eines Besseren belehrt werden."

© SZ vom 17.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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