Berlin:Bloß keinen Überschwang

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Zwei arbeiten zusammen: Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz zu ihrer Rechten am Kabinettstisch. (Foto: John Macdougall/AFP)

Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Vizekanzler Olaf Scholz ziehen Halbzeitbilanz der Regierung - und vermeiden dabei jeden Anschein, sie müssten für die große Koalition und deren Zukunft werben.

Von Nico Fried

Hätte man von diesem Auftritt in der Lobby des Kanzleramtes den Fortbestand der großen Koalition abhängig gemacht, dann wäre die Regierung am Ende gewesen, noch ehe Angela Merkel und Olaf Scholz nach wenigen Minuten wieder im Fahrstuhl verschwanden. Die Kanzlerin von der CDU und ihr Vize von der SPD nutzten am Mittwochvormittag die Übergabe des Jahresgutachtens der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen, um gleich auch noch für die große Koalition zu werben - besser gesagt: Sie nutzten die Gelegenheit gerade nicht.

Merkel sprach in ihrem kurzen Statement zur Bestandsaufnahme der bisherigen Arbeit in größtmöglicher Allgemeinheit und mit geringstmöglicher Emphase über Strukturwandel und Digitalisierung, über Mobilität und Klimaschutz, Familienförderung und Wohnungsbau. Sie könne jetzt nicht auf alle Maßnahmen eingehen, so die Kanzlerin, was dazu führte, dass sie auf fast gar keine Maßnahme einging. Die Kanzlerin sprach stattdessen von Paketen, die von der Regierung beschlossen worden seien, "die ihresgleichen suchen", und davon, dass die Koalition von 300 "Großmaßnahmen" aus dem Koalitionsvertrag zwei Drittel bereits auf den Weg gebracht oder sogar abgeschlossen habe. Daraus leitete sie ab, dass die Koalition "arbeitsfähig und arbeitswillig" sei.

Zumindest mangelnden Fleiß könne man der Koalition nicht vorwerfen, witzelt ein Minister

Olaf Scholz stand für sein Statement an der Stelle zur Rechten Merkels, wo sonst Staatsgäste wie der irakische Premierminister oder der albanische Präsident stehen. Scholz modulierte während seiner Äußerungen weder seine Stimme noch seine Gesichtszüge. Es gehe darum, so der Vizekanzler, mit dem Strukturwandel "dafür zu sorgen, die neuen Wohlstandszyklen für die Volkswirtschaft möglich zu machen". Das stimmt vielleicht sogar, allerdings könnten solche Formulierungen im Zweifel nicht ausreichen, um einen SPD-Parteitag davon zu überzeugen, dass in der Koalition noch irgendein politischer Wohlstandszyklus für die Sozialdemokraten möglich wird. Doch ist eben dieser Parteitag im Dezember nun für den Fortbestand der Regierung die entscheidende Hürde.

Halbzeitbilanz der großen Koalition. Auf Drängen der SPD hatte man im Frühjahr 2018 die entsprechende Regelung getroffen: "Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen." Die Bestandsaufnahme liegt seit dem Dienstagabend vor, sie hat 83 Seiten und wurde am Mittwoch im Kabinett ohne größere Aussprache zur Kenntnis genommen.

Jedes Ressort war aufgerufen, die Projekte aufzulisten, die in seiner Verantwortung auf den Weg gebracht worden waren. Kanzleramtschef Helge Braun, der für die Erstellung des Konvoluts zuständig war, soll sich in der Kabinettssitzung für die umfangreiche Zuarbeit der Ministerien bedankt haben. Ein Minister, so hieß es hinterher, habe dies mit dem sarkastischen Satz kommentiert, es sei an der Außendarstellung der Koalition wohl manches zu kritisieren, nicht aber, dass man nicht fleißig sei. Helge Braun übrigens durfte dann mit zum Pressetermin und auf die Fotos, vielleicht als Belohnung.

Bei diesem Pressetermin im Kanzleramt verwies Vizekanzler Scholz später darauf, dass die Regelung zur Halbzeitbilanz im Koalitionsvertrag disziplinierenden Effekt gehabt habe. "Es hat bewirkt, dass man es auch schnell angeht", sagte er mit Blick auf den Inhalt der Koalitionsvereinbarungen. Hinter Merkel und Scholz standen Arbeitsminister Hubertus Heil und Gesundheitsminister Jens Spahn. Sagen durften sie nichts, aber beifällig nicken. Beide sind zum ersten Mal Minister und personifizieren einen gewissen juvenilen Elan, der die Drohung einer Halbzeitbilanz gar nicht gebraucht hätte. Allerdings stehen die beiden auch für ein Projekt, das wie kein anderes versinnbildlicht, welche Bremswirkung diese Koalition auch entfalten kann: die Grundrente.

Letztlich hängt die Zukunft der Koalition wohl nicht an der nun vorgelegten Bestandsaufnahme, über die als nächstes die Parteigremien beraten werden, sondern daran, ob am kommenden Wochenende endlich ein einvernehmlicher Beschluss über die neue Sozialleistung erzielt wird. Seit Sozialminister Heil sein Konzept im Februar dieses Jahres erstmals öffentlich lancierte, wären dann bis zur Einigung mehr als neun Monate, mehrere Koalitionsausschüsse und unzählige Verhandlungsrunden der zuständigen Arbeitsgruppe vergangen. "Arbeitswillig und arbeitsfähig" zu sein, wie es Merkel formulierte, hat eben auch zweifelhafte Seiten.

© SZ vom 07.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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