Belgien:Volksherrschaft wie im alten Athen

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Eupen ist die Hauptstadt der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und der Ort des Demokratie-Experiments. (Foto: Friedrich Stark/Alamy/mauritius images)

Im deutschsprachigen Osten des Landes experimentieren die Bürger mit dem Modell der Mitmach-Demokratie. Für den neuen "Bürgerrat" werden die Volksvertreter im Losverfahren bestimmt.

Von Thomas Kirchner, Eupen

Ein Gruppenfoto. 24 Männer und Frauen aus Ostbelgien lächeln schüchtern, einige wissen nicht, wohin mit den Händen. Sie sind Laborantin, Biologin, Ex-Polizist, Angestellter bei einer Baufirma, Rechtsanwältin, Lehrerin, Studierende, Hausfrau, Postbeamter. Mit aktiver Politik und Öffentlichkeit hatten die meisten bisher nichts zu tun: Sie sind nicht gewählt, sondern per Los zum Mitmachen bestimmt worden.

In den Gesichtern erkennt man Stolz. Allen ist bewusst, dass sie Geschichte schreiben an diesem Septemberabend in Eupen, Demokratiegeschichte. Sie kamen zur ersten Sitzung des "Bürgerrats" zusammen, eines Gremiums, das nun neben das reguläre Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Belgiens tritt und so die Politik der Region mitgestalten darf. Es wird zu einer Art zweite Kammer, für ganz normale Bürger, die sich politisch engagieren wollen.

Vielerorts in Europa oder auf anderen Kontinenten ist Ähnliches ausprobiert worden. Aber noch nie wurde daraus eine permanente Institution wie der "Bürgerdialog" in Ostbelgien. Eine politische Weltpremiere. Und ein Experiment, von dem sich manche, wenn es gelingt, die Rettung der liberalen Demokratie versprechen.

Ostbelgien eignet sich als Labor. Die Grenzregion ist zwar winzig im Verhältnis zu den Landesteilen Wallonie und Flandern, sie umfasst nur 77 000 Deutsch sprechende Belgier. Aber sie hat weitgehende Autonomierechte, darf von Bildung über Kultur und Soziales vieles selbst entscheiden. Ähnlich wie ein deutsches Bundesland, nur kleiner.

Ein Wissenschaftler sucht ein Mittel gegen das demokratische Ermüdungssyndrom

Hier redet das Volk jetzt mit. Der Bürgerrat wählt Themen aus, welche Bürger, Abgeordnete oder die Regierung vorgeschlagen haben. 25 bis 50 Teilnehmer einer Bürgerversammlung diskutieren darüber, eventuell werden Experten hinzugezogen, dann Empfehlungen verabschiedet. Die Politik muss reagieren, am Ende soll eine Vereinbarung stehen, ob und wie ein Vorhaben umgesetzt wird oder nicht.

"Wir müssen unsere Gemeinschaft fit für die Zukunft machen", sagt der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft, Oliver Paasch, in seiner Regierungserklärung an diesem Abend und verspricht, die Empfehlungen der Bürger "bestmöglich" zu beherzigen. Er zitiert Gustav Heinemann: "Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte." Bewahren wollen sie Wohlstand und Frieden. Und dazu musste die Politik freiwillig Macht abgeben. Denn das ist der Clou in Eupen: Die Mitmachdemokratie à la Belgien wurde nicht von der Zivilgesellschaft erkämpft, sie wurde von oben eingesetzt. Aus Überzeugung. Weil man glaubt, damit besser zu fahren.

Die Idee dazu hatte Alexander Miesen. Der 36-jährige Liberale war bis vor Kurzem Parlamentspräsident. Die Bürger seien in der Deutschsprachigen Gemeinschaft schon öfter konsultiert, Ausschusssitzungen öffentlich abgehalten worden. "Aber es kamen immer dieselben Leute, Gewerkschafter, Vereinspräsidenten, eben alle, die sich ohnehin engagieren." Miesen wollte auch andere erreichen. Er sah sich partizipative Modelle in der Schweiz und in Österreich an, im schwäbischen Herrenberg, im luxemburgischen Beckerich. Gemeinsam haben diese Modelle, dass sie kommunal und punktuell eingesetzt werden.

2017 begann ein erster Test in der DG zu einem vorgegebenen Thema, Kinderbetreuung. Es lief gut, die Zufriedenheit war auf allen Seiten hoch. Eine Auswertung zeigte aber auch Schwachpunkte auf: zu wenig Sitzungsgeld für die Teilnehmer, ein fehlendes Sekretariat. Man beschloss weiterzumachen, mehr zu tun. Und nun trat David Van Reybrouck ins Bild, brachte Tempo und Erfahrung in die Sache. Der belgische Historiker ist Autor einer anerkannten Geschichte des Kongo, der einst eine belgische Kolonie war. Seine zweite Leidenschaft gilt dem Gemeinwesen und der Frage, wie sich das "demokratische Ermüdungssyndrom" heilen ließe, das sich, wie er meint, im Desinteresse der Bürger an den Parteien bei gleichzeitig steigender Unzufriedenheit mit der Politik äußert.

In seinem Buch "Gegen Wahlen" stellt Van Reybrouck das klassische Modell mit Wahlen und Referenden infrage. Er plädiert für die Einbeziehung des Volks über eine zusätzliche, durch Los bestimmte Kammer - anstelle von permanentem Wahlkampf oder spaltenden Abstimmungen. Das Auslosen der Volksvertreter sieht er als gerechtes, Repräsentativität garantierendes Heilmittel. Die "aleatorische" Demokratie, gepriesen von Aristoteles, war in der Demokratie Athens die Regel, populär in Italiens Stadtstaaten seit dem 13. Jahrhundert und fand sich sogar in deutschen Städten wie Münster und Frankfurt. Erst mit der Französischen Revolution verschwand die Idee. Van Reybroucks zentraler Gedanke: "Wenn einfache Bürger die Befugnis, Zeit und Information bekommen, schwierige Fragen anzugehen, wachsen sie über Gegensätzlichkeiten hinaus und liefern sinnvolle Antworten."

Ministerpräsident Paasch kontaktierte den Autor, der sein Netzwerk einbrachte, denn er ist nicht der Einzige, der sich für die "deliberative Demokratie" einsetzt. Seit bald 20 Jahren testen Wissenschaftler und Praktiker weltweit verschiedenste Modelle. Einige haben sich in der Organisation G 1000 zusammengeschlossen, die Van Reybrouck mitgründete. Mit Kollegen tüftelte er ein Konzept aus, das die DG mit kleinen Änderungen übernahm. Die Abgeordneten billigten den Plan ohne Gegenstimme, 150 000 Euro soll das kosten.

"Man macht es aus Überzeugung, oder man macht es nicht"

Welche Themen die Bürger angehen werden, "dafür habe ich noch kein Gespür", sagt Miesen. Infrastrukturprobleme, das Kneipensterben, Pflege? Oder Fragen der Raumordnung und des Städtebaus, die demnächst in die Zuständigkeit der DG fallen? 1000 per Zufall aus dem Telefonbuch gepickte Bürger wurden gefragt, 140 sagten begründet ab, 115 wollten dabei sein. Der Zufall regiert aber nicht absolut: Bei der Auswahl hat man versucht, die Gesellschaft abzubilden: Alt und Jung, besser oder weniger gebildet, weiblich, männlich. "Es wird so viel geschimpft", sagt eine Frau, "aber hier kann man als normaler Mensch etwas bewegen." Einer der Teilnehmer, der Baufachmann, hat einen Anfahrtsweg von 60 Kilometern. Er sagt: "Man macht es aus Überzeugung, oder man macht es nicht." Eine Moderatorin soll zudem verhindern, dass Alphatiere den Dialog dominieren.

Viele politische Fragen seien inzwischen hochkomplex, sagt Miesen, sie ließen sich nicht auf ein Ja oder Nein oder ein paar Twitter-Zeilen reduzieren. "Ich freue mich sehr darauf, mal wieder ausführlich und in Ruhe über ein Thema diskutieren zu können." Fast wörtlich übernimmt er damit ein Argument, das die deutschen Wissenschaftler Herfried und Marina Münkler in ihrem jüngsten Buch anführen: Die Demokratie brauche Entschleunigung. Das Autorenpaar empfiehlt eine "Mitwirkungsdemokratie", die wie eine Kopie des Eupener Modells wirkt. Andernfalls drohe der liberalen Demokratie der Untergang. Auch in Deutschland erfahren deliberative Ideen Zuspruch, doch ist die Bewegung längst nicht so weit wie in Belgien.

Nicht alle in der DG, das muss gesagt sein, sind begeistert von der Polit-Innovation. Marnix Peeters, Kolumnist bei De Morgen, sieht darin eher einen Marketing-Gag der Politik. Die Region sei wie ein Dorf, harmonisch und wohlhabend: viel Platz, wenig Menschen. Er zitiert einen Redakteur der Lokalzeitung Grenzecho: "Es wäre großartig, so etwas an einem Ort einzuführen, an dem es Probleme gibt."

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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