Weitgehend unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit diskutieren die Fraktionen des Deutschen Bundestags in diesen Tagen über ein grundlegendes Menschenrecht: das Recht zu wählen. Worum geht es genau? Derzeit sieht die Rechtslage in Deutschland vor, dass Menschen, die zur Besorgung all ihrer Angelegenheiten einen Betreuer oder eine Betreuerin zur Seite gestellt bekommen haben, nicht wählen dürfen. Genauso wenig Menschen, die im Zustand der Schuldunfähigkeit eine Straftat begangen haben und deshalb in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Sie dürfen nicht an den Europawahlen teilnehmen, nicht an den Bundestagswahlen und in vielen Bundesländern auch nicht an den Landtags- und Kommunalwahlen. Und das, obwohl sie durchaus geschäftsfähig sind. Zugespitzt formuliert: Eine Kaufentscheidung wird ihnen zugetraut, eine Wahlentscheidung nicht.
Nun mag die Entscheidung, welche Zeitung sich jemand kauft, nicht so grundlegend erscheinen wie die Entscheidung, an welcher Stelle sie oder er das Kreuz auf dem Wahlzettel setzt. Das ist jedoch nicht der Punkt. Ausgeschlossen zu sein vom Wahlrecht kommt einem Entzug der Bürgerrechte gleich. Die Nachricht dahinter ist: Dich gibt es zwar und du wirst versorgt, aber eine politische Entscheidung trauen wir dir nicht zu. Die Wahlrechtsausschlüsse stehen in absolutem Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention; die Bundesrepublik hat sie vor genau zehn Jahren ratifiziert - und damit zu geltendem Recht gemacht.
Glücklicherweise hatten die Regierungsfraktionen diese Ungerechtigkeit bei Abschluss des Koalitionsvertrages erkannt und sich verpflichtet, die Wahlrechtsausschlüsse zu beenden. Nun jedoch droht ein Rollback: Offenbar will die Unionsfraktion die Ausschlüsse aktuell nicht nur nicht abschaffen. Befürchtet wird sogar eine Verkomplizierung der Rechtslage, wenn Richterinnen oder Richter die Wahlfähigkeit in jedem Einzelfall überprüfen sollten. Das wäre fatal. Bei einer solchen Regelung bestünde die Gefahr, dass zukünftig deutlich mehr Personen von Wahlrechtsausschlüssen betroffen wären als heute. Die Wahlfähigkeit könnte auch Personen aberkannt werden, bei denen zum Beispiel keine "Vollbetreuung" angeordnet wurde oder bei denen eine Vorsorgevollmacht vorliegt und deshalb eine rechtliche Betreuung ausscheidet. Das kann niemand ernsthaft wollen.
Kritikerinnen und Kritiker eines inklusiven Wahlrechts werfen immer wieder ein, dass eine Missbrauchsgefahr bei der Stimmabgabe bestünde, wenn Menschen mit zum Beispiel einer Lernbehinderung sich dabei unterstützen ließen. Dass "diese Menschen" doch gar nicht in der Lage wären, ausgewogene Wahlentscheidungen zu treffen. Aber mal ehrlich: natürlich sind auch Menschen mit Behinderungen politisch interessiert und wollen mitentscheiden. Und allein die Annahme, dass bei der Stimmabgabe die abstrakte Gefahr besteht, eine Assistenzkraft könnte unrechtmäßig handeln, rechtfertigt nicht die Vorenthaltung eines zentralen demokratischen Grundrechts.
Pauschale Wahlrechtsausschlüsse sind ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte
Wer ernsthaft eine "Wahlreifeprüfung" fordert, sollte sich darüber im Klaren sein, dass dies verfassungsrechtlich - gelinde gesagt - umstritten ist. Und wer würde eigentlich die Kriterien für eine solche Wahlreifeprüfung festlegen? Wer dürfte dann wählen und wer nicht? Öffnet dies nicht erst recht Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen? Nebenbei bemerkt: Wer den Stimmzettel zu Hause tatsächlich ausfüllt, kann genauso wenig kontrolliert werden. Und das ist auch gut so, denn das Vertrauen des Staates in seine Bürgerinnen und Bürger ist ein wesentlicher Bestandteil unserer modernen Demokratie.
Letztendlich lenken all diese Bedenken und Vorschläge doch vom Wesentlichen ab: Das demokratische Grundrecht eines jeden Einzelnen muss immer stärker gewichtet werden als ein möglicher Wahlrechtsmissbrauch. Pauschale Wahlrechtsausschlüsse sind und bleiben ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte und stehen unserer Demokratie nicht gut zu Gesicht. Das haben uns die Vereinten Nationen bei der ersten Staatenprüfung zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention 2015 bereits attestiert und uns zu Recht aufgefordert, dies zu ändern.
Bemängelt wurde damals übrigens auch, dass Menschen mit Behinderungen häufig mit Barrieren konfrontiert sind, die sie an der gleichberechtigten Ausübung ihres Wahlrechts hindern - sei es durch bauliche Barrieren, Wahlbenachrichtigungen ohne leichte Sprache oder auch fehlende Informationen in Gebärdensprache. Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention regelt jedoch, dass die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben umfänglich garantiert werden muss. Auch die Mitarbeit in nicht staatlichen Organisationen oder politischen Parteien soll gewährleistet werden. Hier ist noch deutlich Luft nach oben, Menschen mit Behinderungen sind im politischen Betrieb unterrepräsentiert. Und zwar nicht nur als Expertinnen und Experten in eigener Sache, sondern auch, weil sie - so wie jeder Mensch - durch den eigenen Erfahrungshorizont eine neue Perspektive einbringen können.
Die Sicht auf Menschen mit Behinderungen muss sich gesamtgesellschaftlich ändern: Nicht der Fürsorge-Aspekt sollte im Zentrum stehen, sondern der Teilhabe-Aspekt. Jede und jeder sollte so weit es geht ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. Zahlreiche Verbände, Aktivistinnen und Aktivisten mit Behinderungen belegen dieses neue Selbstverständnis, nur in der breiten Öffentlichkeit und auch in der Rechtsumsetzung ist dies noch nicht überall angekommen. Auch deswegen habe ich meine Amtszeit unter das Motto "Demokratie braucht Inklusion" gestellt. Eine gute Demokratie braucht nicht nur Vertrauen, sondern auch Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe für alle.
In diesem Jahr beginnt die zweite Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Der zehnte Jahrestag ihrer Ratifizierung ist ein guter Anlass, endlich die Wahlrechtsausschlüsse bei Europa- und Bundestagswahlen abzuschaffen. Die Zeit drängt, die Europawahl steht vor der Tür. Auch in einigen Bundesländern besteht noch Nachholbedarf, auch wenn einige die Ausschlüsse bei Wahlen auf Landes- und Kommunalebene glücklicherweise abgeschafft haben. Die Demokratie hat dabei keinen Schaden genommen, im Gegenteil, sie wurde gestärkt. Nehmen wir uns ein Beispiel an Kanada, Japan, Großbritannien, Schweden, den Niederlanden oder Österreich und weiteren Ländern. Einfach machen. Es ist eigentlich nicht schwer.