Außenansicht:Was zu schaffen ist

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Rudolf G. Adam, 66, leitete von 2004 bis 2008 die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Zuvor war er unter anderem Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. (Foto: Gero Breloer/dpa)

Plädoyer für eine humane und verantwortungsbewusste Flüchtlingspolitik ohne Wunschdenken.

Von Rudolf G. Adam

Vor sechs Monaten rief Bundeskanzlerin Merkel: "Wir schaffen das!" Sechs Monate später sind eine Million Zuwanderer in Deutschland untergebracht. Politisch spaltet das Thema Europa und die Regierungsparteien und hilft Radikalen. Im Februar verkündet das Innenministerium, 2016 sei mit 500 000 Flüchtlingen zu rechnen. Diese Schätzung könnte ebenso von der Realität überholt werden wie 2015. Eine Million Zuwanderer in einem Jahr sind zu schaffen, eine Million pro Jahr nicht. Derzeit sind die Zahlen dramatisch gesunken, niemand weiß aber, wie lange das so bleiben wird.

Was muss also geschafft werden, weil Moral und Humanität es gebieten? Und was ist nicht mehr zu schaffen, weil materielle, kulturelle und politische Ressourcen nicht unendlich sind? Flüchtlingspolitik erfordert, zuverlässig zwischen Flüchtlingen und Migranten zu trennen. Flüchtlinge hoffen, nach dem Ende der Fluchtursachen heimkehren zu können, Migranten nicht. Flüchtlinge haben Anspruch auf besonderen Schutz, Migranten nicht. Unmittelbare Lebensgefahr zwingt Flüchtlinge, ihre Heimat zu verlassen, Migranten gehen aus eigenem Entschluss. Hilfe muss vor allem denen zufließen, die nicht für sich selbst sorgen können, den Armen, Kranken, Hungernden, Behinderten, Verwundeten. Mit der jetzigen Politik belohnen wir die, die für sich selbst sorgen könnten: die Starken, Robusten, die mit Geld für die Reise.

Wir brauchen mehr und detailliertere Daten über jene, die Zuflucht suchen. Die Zusammensetzung des Menschenstroms verändert sich ständig. Wer kommt direkt aus zerbombten Städten, wer aus Lagern, wer reist aus einem Drittland weiter, in dem er bereits Aufnahme gefunden hatte? Wie reisen sie, wie orientieren sie sich, wie besorgen sie unterwegs Nahrung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Hilfe? Welche Schulbildung, welche Qualifikation bringen sie mit?

Moralisch ist geboten, Menschen in Lebensgefahr Zuflucht zu gewähren. Not kennt kein Gebot, erlaubt aber ebenso wenig, wählerisch zu sein. Der Flüchtlingsstatus verleiht nicht den Anspruch, sich den Zufluchtsort aussuchen zu dürfen. Je universeller und unbedingter ein Gebot gilt, um so weniger dürfen ihm überzogene Inhalte aufgebürdet werden. Die Menschen in Calais sind weder von Terror noch Krieg bedroht. Sie sind keine Flüchtlinge. Dennoch setzen sie ihr Leben aufs Spiel, um nach England zu gelangen. Zu welchen Leistungen sind wir verpflichtet, wenn jemand, um sein Ziel zu erreichen, Risiken auf sich nimmt, die wir für unzumutbar halten? Wenn jemand partout mit dem Kopf durch die Wand will, müssen wir dann die Wand abtragen?

70 Prozent aller Ausreisepflichtigen werden in Deutschland geduldet

Syrer machen etwa 40 Prozent der Ankömmlinge aus. Davon kommt etwa die Hälfte gar nicht aus Syrien sondern aus Nachbarländern. 60 Prozent kommen aus anderen Ländern, in denen öffentliche Sicherheit, Rechtsschutz und Lebensniveau weit unter dem deutschen Niveau liegen. Das allein macht sie aber nicht zu Flüchtlingen. Viele hegen Hoffnungen, die weit von jeder Realität entfernt sind. Dieser Anreiz kann nur genommen werden, wenn jeder ohne Bleibeanspruch zeitnah zurückkehren muss. Nur dann wird der Migrationsdruck zurückgehen. Spanien bietet hierfür ein Beispiel.

Einreisende mit Koffern ohne Visum weisen wir ab. Wer zu Fuß mit Plastiktüten ohne Papiere buchstäblich einwandert, wird willkommen geheißen. Wir unternehmen äußerste Anstrengungen zur Integration, erklären aber gleichzeitig, dass die Hälfte wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren muss: Erst mit hohem Aufwand und Strafandrohungen integrieren und dann die erfolgreich Integrierten mit neuem Aufwand und Strafandrohungen wieder abschieben?

Wenn die Hälfte der Ankömmlinge wieder zurückkehren muss, sollte der Rhythmus der Rückführungen dem der Ankünfte entsprechen: Kommen pro Jahr eine Million Menschen, müssten 500 000 abgeschoben werden. Das sind pro Tag vier Jumbojets. Viele werden sich der Rückführung entziehen. Unabsehbar ist, wie weit Herkunftsländer überhaupt zur Rücknahme bereit sind. Wer Ausweise vernichtet oder gefälscht hat, wird nicht abgeschoben werden können. Abschiebungen sind immer mit Zwang und jammervollen Szenen verbunden. Bislang verlassen zwölf Prozent aller Ausreisepflichtigen Deutschland, 70 Prozent werden geduldet, der Rest taucht ab. Solange Ankündigungen keine Taten folgen, wird jeder erwarten, dass er gute Chancen hat zu bleiben.

In Afghanistan und im Irak versuchen wir seit mehr als zehn Jahren ohne überzeugenden Erfolg, Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir brauchen eine Lösung, die funktioniert, auch wenn die Fluchtursachen weiterbestehen. Wenn nicht zu beziffern ist, was eigentlich zu schaffen ist, ist Wunschdenken fehl am Platze. Dann gebietet Staatsklugheit, Vorkehrungen auch für den schlimmsten Fall zu treffen. Migrationspolitik darf nicht insgesamt scheitern, wenn eine einzige Komponente versagt.

Wenn sich die Türkei als zuverlässiger und langfristiger Partner gewinnen lässt, um so besser. Wenn die anderen europäischen Staaten für ein solidarisches Vorgehen gewonnen werden können, noch besser. Allerdings könnten sie umgekehrt auch von uns Solidarität fordern. Die Zäune, die jetzt errichtet worden sind, werden so bald nicht wieder niedergerissen werden. Das enthebt uns nicht der Verantwortung für diejenigen, die auf der anderen Seite gestrandet sind, und vor allem für diejenigen, die sie jetzt irgendwie unterbringen und versorgen müssen.

Wenn es zutrifft, dass der Migrationsdruck hoch bleiben, vielleicht sogar noch weiter steigen wird, sollten wir ihm so früh wie möglich begegnen. Für wahrhafte Flüchtlinge müssten möglichst nah an ihrem Herkunftsland Auffangstrukturen entstehen, die mehr sind als bloße Lager: Flüchtlinge sollten Chancen zur Berufsausübung, Weiterbildung und Selbstverwaltung erhalten. Wer darüber hinaus Aufnahme in Deutschland sucht, sollte grenznah seinen Antrag in konsularischen Außenstellen stellen können, in denen eine pauschale Vorabprüfung möglich ist. Wenn der arabisch-islamische Raum eine langfristige Herausforderung für Europa darstellt, brauchen wir Experten mit vertieften Kenntnissen. Integration ist nicht nur eine Bringschuld der Ankömmlinge; Integration erfordert auch, dass wir verstehen, welche Mentalitäten, welche kulturellen Vorstellungen und rechtlichen Prägungen sie mitbringen. Wir brauchen mehr Studiengänge in arabischer Kultur. Vielleicht sollten wir den diplomatischen Dienst um eine Laufbahn von Experten erweitern, die sich auf diese Region spezialisieren.

© SZ vom 30.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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