Außenansicht:Von Deutschland lernen

Lesezeit: 4 min

Christophe Bourdoiseau, 50, ist Deutschlandkorrespondent der französischen Tageszeitung Le Parisien. Er lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin. (Foto: privat)

In zwanzig Jahren hat das Land riesige Fortschritte gemacht. Ein neidvoller Blick aus französischer Sicht.

Von Christophe Bourdoiseau

Viele Deutsche haben das Gefühl, in einem kranken Land zu leben. Als Franzose kann ich diesen Eindruck nicht teilen. Im Gegenteil, Deutschland schaut nach vorne. Viele Entscheidungen der vergangen Jahre waren richtig, um das Land auf die globalisierte Welt vorzubereiten. Ich wünsche mir, dass mein Land, Frankreich, von diesem deutschen Weg lernt und aufhört, der schwarz-weißen Postkarte der Vergangenheit zu vertrauen.

Deutschland hat sich in 20 Jahren unglaublich positiv verändert. Nach der Wende war es in einem deprimierenden Zustand. Konflikte zwischen Ossis und Wessis, Gewalt gegen Asylbewerber, CDU-Wahlkampagne gegen Ausländer, kriegsähnliche Zustände während Atommülltransporten in Gorleben, Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, Stasi-Skandale. Auch wenn Ungerechtigkeiten bleiben, ist die Wiedervereinigung heute erfolgreich vollzogen. Wer hätte gedacht, dass 2012 zwei ehemalige DDR-Bürger - darunter eine Frau - Deutschland regieren würden? Das hat dem Land gutgetan. Die rot-grüne Regierung von Gerhard Schröder hat Deutschland nicht nur auf die internationale Bühne zurückgebracht. Sie hat das Land zu einem Stabilitätsfaktor auf dem Kontinent gemacht. Hätten wir ohne Deutschland noch unsere wunderschöne europäische und freie Gemeinschaft?

Dank einer gut informierten Bevölkerung hat man verstanden, dass Kernkraftwerke keine Zukunft haben. Ich würde mich freuen, wenn Frankreich den Atomausstieg auch nur einleitet. Aber die Atomlobby ist noch so stark, dass sogar Anhänger der Grünen diese Energie noch verteidigen. Frankreich ist auf dem falschen Weg und baut AKWs weiter, obwohl ein Endlager für den Atommüll fehlt.

Die Debatte über die "Lügenpresse" hat uns gezeigt, dass die deutschen Medien vielfältig und unabhängig sind wie kaum in einem anderen Land in Europa. Damit ist die politische Hygiene gewährleistet. Karl-Theodor zu Guttenberg hätte seine politische Karriere in Frankreich nicht beenden müssen. Umgekehrt hätte in Deutschland ein Kandidat wie François Fillon, gegen den im französischen Präsidentschaftswahlkampf ein Ermittlungsverfahren lief, keine Chance gehabt, seine Kandidatur weiterzuführen.

Deutschland hat sein Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert und seine Debatte über die Leitkultur aufgegeben. Das Abstammungsprinzip (Blutrecht) wurde durch das modernere Geburtsortprinzip (Bodenrecht) ersetzt. Dadurch hat eine neue Ära für Millionen Bürger mit Migrationshintergrund begonnen, welche ihnen das Gefühl vermittelt, in dieser Gesellschaft langsam angekommen zu sein. Und denen, die sich als "Biodeutsche" verstehen, hat es geholfen, die neue Zeit zu akzeptieren. Ja, alle Deutschen werden nicht mehr so aussehen wie auf alten Postkarten. Aber alle werden weiter die deutsche Kultur tragen. Die Ausländer und ihre Kinder haben Frankreich starkgemacht. Sie werden es auch in Deutschland tun.

Dadurch wurde auch das Multikulti-Prinzip abgeschafft und die Zuwanderung akzeptiert. Sogar Horst Seehofer von der CSU spricht jetzt von Integration. Ist es nicht ein Wunder? Mit der 2006 ins Leben gerufenen Islamkonferenz hat der Dialog mit den Muslimen angefangen. Ja, es bringt sehr viel, besonders in den Köpfen. Der historische Satz von Christian Wulff - "Der Islam gehört zu Deutschland" - war wichtig, auch wenn viele diesen nicht akzeptieren wollen.

In Frankreich warten wir immer noch auf einen Präsidenten, der Ähnliches sagt. Das Ignorieren hat dazu beigetragen, dass 2016 mehr als acht Millionen Franzosen eine Kandidatin gewählt haben, die den Islam als Teil der Identität des Landes ablehnt. Das ist keine gute Voraussetzung für ein künftiges Zusammenleben. Frankreich betrachtet seine Bürger mit Migrationshintergrund immer mehr als Gefahr und bereitet so das Terrain für einen Bürgerkrieg. Mit seinem einstigen Integrationsmodell ist Frankreich heute am Ende.

Die Umwandlung der Neuköllner Rütli-Schule hat gezeigt, wie ernst es die Deutschen mit dem Thema Integration meinen und wie erfolgreich sie damit auch umgehen können. Aus der einst verrufenen Schule in Berlin ist ein Vorzeige-Campus geworden. Migrationskinder werden jetzt langsam als Chance betrachtet und nicht mehr als Gefahr. Man muss sich um sie kümmern. Deutschland hat die richtigen Weichen für eine erfolgreiche Integration gestellt. Das Land wird davon profitieren, wie damals Frankreich.

Die Deutschen haben 2015 eine humanitäre Katastrophe verhindert

Deutschland hat mehr als eine Million Flüchtlinge freundlich aufgenommen. Dank einer mobilisierten Zivilgesellschaft haben wir 2015 eine humanitäre Katastrophe in Europa und damit weitere wilde Camps obdachloser Migranten wie in Nordfrankreich verhindert. Viele Franzosen sind den Deutschen dankbar, dass sie die humanistischen Werte Europas verteidigt haben. Die Stadt Berlin hat 2015 so viele Flüchtige aufgenommen wie ganz Frankreich. Diese Flüchtlingswelle birgt natürlich Gefahren. Aber die Deutschen haben daraus gelernt und sind so schon vorbereitet für die nächste Migrationswelle, die auf uns zukommen wird. Ja, Grenzen und Abschottung werden die Migranten in einer globalen Welt nicht abhalten können. Das kann man von und in Deutschland lernen.

Das Land hat sich in den vergangenen 20 Jahren seiner dunklen Geschichte ernsthaft gestellt. In den 90er-Jahren war es noch schwierig, über die Nazi-Vergangenheit zu sprechen. Immer wieder mussten die Deutschen sich entschuldigen für die Taten ihren Eltern und Großeltern. Dank einer beispiellosen Kultur der Erinnerung hat sich das Land von dieser Last befreit. Ohne Wahrheit gibt es keine Versöhnung. Das lernt man nirgendwo besser als in Deutschland. Diese Politik täte Frankreich und anderen historisch traumatisierten Ländern gut. Damit wir uns mit den Migrantenkindern der Banlieues versöhnen können, müssen wir uns selbst mit den Verbrechen des Kolonialismus konfrontieren. Die Gewalt unserer Vorstädte hat soziale Gründe, aber eben auch historische.

Das zuletzt verabschiedete Gesetz über die Ehe für alle hat auch gezeigt, wie offen die deutsche Gesellschaft geworden ist. Der Schritt war überfällig. Es gab keine Proteste. In Frankreich hat dieses Thema beinahe einen Bürgerkrieg ausgelöst, wie einst die Dreyfus-Affäre vor mehr als 100 Jahren. Die Bewegung, die sich als Reaktion auf die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare gebildet hat, war ein schmerzhafter Rückschritt für die Menschenrechte in einer schon orientierungslosen französischen Gesellschaft.

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: