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Jeremy Adler, 70, ist britischer Dichter und war Professor für Deutsche Sprache am King's College London. (Foto: privat)

Großbritannien setzt auf das Modell souveräner Staaten und wechselnder Bündnisse.

Von Jeremy Adler

Obwohl sich Großbritannien nie völlig zur europäischen Idee durchringen konnte, haben britische Denker und Politiker entscheidend zum föderalistischen Ideal beigetragen. Das erste Programm für eine europäische Föderation stammt von dem Quäker William Penn. Dieser schlug 1693 in einem grundlegenden Aufsatz vor, ein europäisches Parlament zu schaffen, um den Frieden zu sichern. Es ist wahrscheinlich, dass Penn angesichts der erneuten Kriegshandlungen in Deutschland nach Ende des Dreißigjährigen Krieges versuchen wollte, eine bessere Form der Sicherheit zu entwickeln, als das sogenannte westfälische System.

Das mit dem Frieden von Westfalen hergestellte "Gleichgewicht der Mächte" war nicht geeignet, Ruhe und Ordnung auf Dauer zu garantieren. Nur ein festeres Bündnis konnte dies erreichen. Obwohl man den Einfluss Penns infrage stellt, gibt es keinen ernsthaften Grund zu bezweifeln, dass er die Tradition der politischen Utopien eröffnete, die in Immanuel Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" von 1795 gipfelte. So wird Penn vielfach als Vordenker der europäischen Union angesehen.

Noch ein weiteres Mal trug Britannien zur europäischen Idee bei. In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine weitverbreitete föderalistische Bewegung in Großbritannien. Ziel dieses Projekts war es, dem Faschismus entgegenzuarbeiten. Eine große Anzahl Politiker, Journalisten und Akademiker wie zum Beispiel der einflussreiche Diplomat Robert Vansittart trugen diese Idee mit. Inspirierend war nicht zuletzt der Karlspreisträger Richard von Coedenhove-Kalergi, von dem das Ideal eines Pan-Europas stammt. Dieser wirkte sodann im englischen Exil auf die politische Klasse ein. Gipfel der Bewegung war ein erstaunlicher Akt, der heute in Vergessenheit geraten ist. Als Frankreich von den Nazis 1940 bedroht wurde, entschied sich Winston Churchills Kriegskabinett für eine "unlösbare Vereinigung" mit den Franzosen. Der französische Marschall Philippe Pétain tat das Angebot jedoch als "Verbindung mit einer Leiche" ab. Man zog es vor, mit den Nazis zu kollaborieren. So entstand in Frankreich das Vichy Regime.

Diese fehlgegangene Strategie Britanniens mündete nach dem Krieg in den Versuch, ein neues Europa zu bilden. Die Rolle, die Churchills Zürcher Rede von 1946 dabei spielte, ist bekannt. Er plädierte für die Schaffung von Vereinigten Staaten von Europa und für einen Europarat, der wenige Jahre danach in London ins Leben gerufen wurde. Doch setzte sich Churchill dann von seiner Europapolitik ab. Am 11. Mai 1953 sagte er: "Wir sind mit Europa, doch nicht Teil von Europa ("with Europe, but not of it"). Wir sind verbunden, doch nicht vereint. Wir sind interessiert und assoziiert, doch nicht absorbiert."

Dies bedeutete einen fatalen Widerruf seiner Vision. Die Ansicht antizipiert, was die britische Regierung heutzutage in ihrem Verhältnis zu Europa vorhat. Das Problem dabei ist, dass die bestehende Föderation nun durch eine lockere Verbindung ersetzt werden soll. So schert Großbritannien, ohne die Lage wirklich zu überdenken, aus einem Friedensbündnis aus und kehrt zum alten Modell des "Gleichgewichts der Kräfte" zurück. Dieses hat nach Westfalen einen großen Flächenbrand verhindert - bis die napoleonischen Kriege ausbrachen; und es hat nach dem Wiener Kongress abermals jahrzehntelang den Frieden gesichert - bis der Erste Weltkrieg folgte. Zwar vertrauen manche Strategen wie Henry Kissinger weiterhin auf das westfälische System, doch bedeutet die Wiederaufnahme dieses Prinzips im alten Kontinent Europa ein neues Wagnis.

Die Raison d'Être der EU liegt bei Sicherheit und Verteidigung. Dies kam beim britischen Plebiszit zum Brexit jedoch nie zur Sprache. Man wollte die eigene Souveränität zurückgewinnen, um frei entscheiden zu können. Dabei bedachte man nicht den Sinn der Souveränität, wie ihn der Engländer Thomas Hobbes, der Vater der modernen politischen Theorie, definierte: den Frieden. Was jedoch im 17. Jahrhundert die absolute Souveränität eines Landes versprach, gewährt heute, laut Politologen wie Neil MacCormack, die Teilung der Souveränität mit gleichgesinnten Staaten. Die erste Pflicht einer Regierung, die Sicherheit ihres Landes zu garantieren, haben die britischen Gesetzgeber im Lauf der Brexit Verhandlungen verworfen.

Die Gefahren sind offenkundig. Der Geschäftsmann Arron Banks, "der böse Bub des Brexit", der von russischen Aktien und Diamanten profitierte, stiftete der Brexit-Kampagne neun Millionen Pfund - die höchste politische Spende aller Zeiten. Damals besuchte er die russische Botschaft elf Mal, den Botschafter vier Mal. Jener bot ihm Gold bei einem Geschäft eines Volumens von sechs Milliarden Pfund an. Inzwischen hat man Banks zu einer Geldstrafe von 135 000 Pfund wegen Datenmissbrauchs verurteilt und Strafermittlungen gegen ihn eröffnet.

Der Verdacht, der Brexit sei mit russischer Hilfe erkauft, um der Europäischen Union zu schaden, wird durch weitere Vorfälle erhärtet. Dieses Jahr fingen britische Jets einen russischen Bomber über der Nordsee ab. Es folgten die Salisbury-Vergiftungen. Das Anliegen Moskaus, den Westen auf die Probe zu stellen, ist klar. Und je mehr wir über den Brexit streiten und einen harten Bruch Großbritanniens mit der EU riskieren, desto weiter öffnen wir der Gefahr die Tür. Es ist höchst unverantwortlich, sich durch den Brexit russischen Provokationen auszusetzen, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da auf die Vereinigten Staaten kein absoluter Verlass mehr ist. Der selbstverschuldeten Schwächung Britanniens entspricht eine Steigerung der Macht Moskaus im gesamten Interessensgebiet der russischen Föderation, von der Ukraine bis nach Syrien.

Das Ausmaß der geopolitischen Destabilisierung ist noch nicht zu ermessen. Das britische Parlament befürchtet Probleme bei Polizei, Sicherheit, Verteidigung und Kooperation mit der EU. Alle wichtigen militärischen Fragen bleiben offen. Auch die britische Rüstungsindustrie könnte leiden. Obwohl London die Verteidigung zunächst weiter gemeinsam mit der EU betreiben wollte, zog es sich Anfang dieses Jahres aus der gemeinsamen europäischen Verteidigung zurück. Da nur vier andere Länder in Europa in der Lage sind, eine gemeinsame Kampfeinheit zu unterhalten, bedeutet dies eine empfindliche Unterminierung der Union. Der jüngste Schritt - den Emmanuel Macron initiierte und Angela Merkel begrüßte -, eine deutsch-französische Interventionsarmee zu gründen, bestätigt, dass Europa allmählich zum instabilen Bündniswesen vergangener Zeiten zurückkehrt. Dies birgt langfristige, noch gar nicht abzusehende Gefahren.

© SZ vom 22.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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