Außenansicht:Überzeugung statt Abschreckung

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Die EU sollte die mit David Cameron vereinbarten Reformen umsetzen.

Von Michael Wohlgemuth

Konfusion in Berlin, Kakophonie in Brüssel, Chaos in London: das sind die Reaktionen auf den Brexit. Es ist, als sei die Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der EU am 23. Juni vom Himmel gefallen. Dabei hätte man sich auf diese Möglichkeit seit Januar 2013 einstellen können, dem Tag, an dem David Cameron das Referendum ankündigte.

Jetzt zeigt sich, dass weder die Regierung in London noch die Kämpfer für den Brexit einen Plan B haben. Genauer: Es gibt zwar viele denkbare Alternativen, über die wurde jedoch nicht abgestimmt. Wahrscheinlich hätte eine Abstimmung zur Frage: "Soll Großbritannien Mitglied der EU bleiben oder den Status eines Mitglieds des Europäischen Währungsraums anstreben?" keine Mehrheit für "leave" ergeben, weil zu viele den Verlust an Souveränität ("regulation without representation") bemerkt hätten. Auch diese Frage hätte sicher keine Mehrheit für den Austritt ergeben: "Soll Großbritannien Mitglied der EU bleiben oder auf den Status eines beliebigen Mitgliedslandes der Welthandelsorganisation (WTO) zurückfallen?" Die ökonomischen Nachteile des Ausstiegs wären überdeutlich geworden. Genau deshalb hat sich das "leave"-Lager ja auch nie auf ein Modell festlegen wollen und stattdessen insinuiert, man könne irgendwie den EU-Binnenmarkt haben wie Norwegen und die Souveränität wie Singapur. Jetzt ist jedem klar, dass es das nicht geben wird. Großbritannien braucht nun Zeit herauszufinden, was das Land unter welcher Führung wirklich will.

Aber auch die Kontinental-Europäer brauchen Zeit, um herauszufinden, was sie Großbritannien anbieten wollen und wie sie dem Misstrauensvotum gegenüber der EU begegnen können. Es sollte sich nicht das wiederholen, was 2005 nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden geschah, als jeweils das Projekt der Europäischen Verfassung vom Volk abgelehnt wurde. Genau wie jetzt wurde eine "Reflexionsphase" ausgerufen; man wolle die Sorgen der Bürger ernst nehmen; ein "Plan D" (für mehr Demokratie") wurde gefordert. Doch am Ende kehrte man zu Plan A ("business as usual") zurück. Die "Verfassung" wurde unwesentlich überarbeitet und umbenannt in "Vertrag von Lissabon". Franzosen und Niederländer wurden nicht noch einmal gefragt.

Die Angst, dass andere sich vom Brexit anstecken lassen könnten, ist berechtigt. Es gibt zwei Arten, darauf zu reagieren: durch Abschreckung oder durch Anstrengung. Viele wollen an den Briten ein Exempel statuieren, um anderen zu zeigen, dass ein Leben nach dem Austritt nur Nachteile bringt. Geht dies auf Kosten des freien Handels, nimmt man freilich gegenseitige Selbstschädigung in Kauf. Statt auf Abschreckung zu setzen, kann man indes auch die Attraktivität der EU steigern, um so weitere Exits kostspieliger und unwahrscheinlicher zu machen.

Sozialleistungen für EU-Ausländer sollten zumindest auf Zeit eingeschränkt werden

Konkret sollte die EU die Zeit nutzen, "Plan C" (C für Cameron) zu verwirklichen und die im Februar mit dem Premier ausgehandelten Reformen trotz Brexit umzusetzen. Der damalige Ratsbeschluss ist zwar rechtlich nun hinfällig, da er nur im Fall eines positiven Referendums in Kraft getreten wäre; auch hätte er in Teilen nur für Großbritannien gegolten. Aber politisch war er durchaus richtungweisend und hätte das Zeug, einiges an Unbehagen mit der EU zumindest zu mildern.

Einvernehmlich wurde damals feststellt, dass flexible Integration möglich ist: Der Bezug in den EU-Verträgen auf den Prozess einer "immer engeren Union" sei vereinbar mit "verschiedenen Wegen der Integration für verschiedene Mitgliedstaaten". Das ist durchaus ein Bekenntnis, dass eine flexible Geometrie der Integration der Willigen und Fähigen ein vertragskonformes Modell ist. Das könnte in vielen EU-skeptischen Ländern die Angst vor Bevormundung aus Brüssel mindern.

Subsidiarität und Demokratie: Nationale Parlamente können mit einer verbindlichen Subsidiaritätsrüge ("rote Karte") aus ihrer Sicht übergreifende Rechtsakte verhindern. Das könnte helfen, dem Vorwurf der Bürgerferne und des Demokratiemangels zu begegnen. Freizügigkeit und Sozialsysteme: Der Zugang von EU-Ausländern zu bestimmten Sozialleistungen kann für eine Anfangszeit von einigen Jahren beschränkt werden; Kindergeld muss nicht für Kinder bezahlt werden, die im Herkunftsland bleiben. Das wurde zwar als "Notbremse" für Großbritannien verhandelt; aber auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will etwas Ähnliches. Wenn die Angst vor der Migration in die Sozialsysteme (anstatt in den Arbeitsmarkt) ein Grund ist, dass viele Bürger der EU den Rücken kehren wollen, sollte man sich dieses Kapitel genau ansehen und allgemeingültige, faire Regeln vereinbaren.

Fairness zwischen Euro- und Nicht-Euro-Ländern: Weitere Schritte zur Vertiefung dürfen weder zu Diskriminierung der Nicht-Euro-Staaten führen, noch haften diese für Rettungsschirme der Euro-Zone. Im Gegenzug sollen Nicht-Euro-Staaten die von den Euro-Staaten gewünschte Vertiefung nicht behindern. Daran sollte man festhalten, um nicht in Ländern wie Tschechien, Dänemark oder Ungarn den EU-Kritikern Munition zu liefern. Die in der Kommission erwogene Aufgabe des Prinzips einer EU mit verschiedenen Währungen würde dagegen bedeuten, dass man dem Euro nur entgehen kann, indem man aus der EU austritt. Kein schlauer Plan.

Wettbewerbsfähigkeit und Binnenmarkt: Die Wettbewerbsfähigkeit und der europäische Binnenmarkt sollen gestärkt werden. Gute Idee. Die Aussagen dazu, wie das geschehen soll, sind allerdings vage. Der Verwaltungsaufwand und die Befolgungskosten für kleine und mittlere Unternehmen sollen gesenkt werden. Unnötige Rechtsvorschriften sollen aufgehoben werden. Weiterhin soll die EU eine "aktive und ehrgeizige Handelspolitik" betreiben. Das bedeutet wohl, an der Umsetzung des TTIP-Abkommens zu arbeiten und weitere Freihandelsabkommen in Angriff zu nehmen. Das mag besonders in Frankreich nicht beliebt sein. Man macht die EU aber auch nicht attraktiver, wenn man Wirtschaftspolitik à la française betreibt. Arbeitslosigkeit und Stagnation wären die Folge; damit wüchse die Gefahr, dass sich weitere Länder aus der EU verabschieden könnten.

Kurzum: Die EU sollte gerade jetzt, nachdem der Cameron-Deal geplatzt ist, diesen in weiten Teilen als Reformprogramm für die EU ohne Großbritannien umsetzen. Schließlich war es genau das Ziel dieser Beschlüsse, die Desintegration der EU zu verhindern. Zugegeben: im Fall der Briten hat das nicht gereicht. Aber jetzt noch weit hinter diese Reformen für mehr Flexibilität, Subsidiarität, Fairness und Wettbewerbsfähigkeit zurückzufallen, wäre töricht.

© SZ vom 07.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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