Außenansicht:Überforderte Bundeswehr

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Kersten Lahl, 68, Generalleutnant a. D., war Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) und gehört dem Vorstand der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) an. (Foto: privat)

Die Weltlage ist unsicher geworden - jetzt brauchen die deutschen Streitkräfte endlich eine klare Strategie.

Von Kersten Lahl

An Krisen mangelt es Europa derzeit nicht. Im Süden des Kontinents versinkt eine ganze Region im Chaos. Im Osten irritiert eine aggressive Machtpolitik Russlands, die man längst überwunden glaubte. Im Westen droht die transatlantische Bindung an Kraft zu verlieren. In Europa selbst sehen wir uns in einer tiefen Sinn-, Solidaritäts- und Vertrauenskrise, wenn nicht gar mitten in einem verstörenden Prozess der Erosion. Und auf globaler Ebene alarmieren zahlreiche Risiken, denen sich heute niemand entziehen kann: fragile Staaten, Cyber-Angriffe, ungehemmte Aufrüstung, unerwünschte Folgen von Flucht und Migration.

In solchen Zeiten braucht die Sicherheitspolitik nichts dringender als ein überzeugendes strategisches Konzept, das auch von den Bürgern verstanden und mitgetragen wird. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung ein neues Weißbuch vorgelegt hat. Dessen Ansprüche waren durchaus hoch: Es soll sich um das "oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands" handeln und eine Debatte in unserem Land schärfen und befördern. Der Anspruch ist so lobenswert wie überfällig - das Ergebnis hingegen enttäuschend.

Von Anstößen zu einem breiten Dialog über Sicherheitspolitik kann auch drei Monate nach Herausgabe des Werkes kaum die Rede sein. Über die Tagespolitik hinaus gab es bisher nur ein einziges Thema, das es in die Schlagzeilen geschafft hat: Die Frage nach Sinn und Zulässigkeit von Einsätzen der Bundeswehr im Inneren. Das ist aber allenfalls ein Randthema - so spannend die Auseinandersetzung innenpolitisch auch sein mag. Die eigentliche Kernfrage deutscher Sicherheitsvorsorge beantwortet das Dokument genauso wenig, wie es die Öffentlichkeit debattiert: Wie schaffen wir es, den heutigen und künftigen Herausforderungen halbwegs erfolgreich zu begegnen?

Ein Schlüsselwort dazu lautet "Vernetzung" der sicherheitspolitischen Konzepte und Instrumente. Seit Langem ist das unbestritten, bleibt aber in der Praxis kaum mehr als eine Worthülse. Das Weißbuch steht leider in dieser Tradition. Vernetzung heißt ja nicht nur, alle Beteiligten auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten. Das allein wäre zu einfach. Vor allem bedeutet Vernetzung, sinnvolle Synergien zu erzeugen. Nicht jeder muss überall mitmischen oder darf sich das herauspicken, was dem eigenen Verständnis am besten entspricht. Das wäre nicht nur ineffektiv, es würde auch Verantwortlichkeiten verwischen und es so erleichtern, bei jedem Misserfolg mit dem Finger auf andere zu zeigen. Nein, Vernetzung verlangt nach klarer Zuweisung von sich gegenseitig ergänzenden Aufgaben im Rahmen einer übergeordneten Strategie, also eine Definition der Schnittstellen zwischen den Akteuren. Das alles lässt sich dem Weißbuch nicht entnehmen. Dieses Defizit spiegelt letztlich eine generelle Strategiearmut in der deutschen Sicherheitspolitik wider.

Mit Blick auf die deutschen Streitkräfte hätte man sich Antworten auf zwei Fragen erhofft: Erstens, bei welchen der großen Risiken können Einsatz oder Projektion militärischer Mittel überhaupt eine zentrale Rolle spielen? Das Weißbuch nennt insgesamt sieben große sicherheitspolitische Herausforderungen, lässt aber völlig offen, mit welchen Instrumenten diesen vorrangig zu begegnen sein wird. Ob etwa der Klimawandel oder die Verhütung von Pandemien oder die Verhinderung weltweiter Aufrüstung oder die Folgen fragiler Staatlichkeit einen nennenswerten auch militärischen Beitrag erzwingen, bleibt zumindest fraglich. Die hohen Ausgaben für die Verteidigung sind mit diesen Aspekten jedenfalls kaum zu begründen.

Daher erhält die zweite erhoffte Antwort besonderes Gewicht: Auf welche Rolle sollte sich die Bundeswehr in ihrem Kern primär ausrichten? Immer wieder wird seit Beginn dieses Jahrhunderts beklagt, die Streitkräfte seien unterfinanziert, unterbesetzt und überfordert. Zwar postuliert man im Verteidigungsministerium heute gern eine sogenannte Trendwende bei Personal und Finanzen, aber das lässt sich auch als Pfeifen im Wald deuten. Um dem Dilemma zwischen Anspruch und Realität zu entkommen, bleibt unter dem Strich nur eine Wahl: Man muss sich endlich zu eindeutigen Prioritäten durchringen. Jeder Truppenführer lernt von Beginn an: Je knapper die Mittel, um so wichtiger ist ein klarer Schwerpunkt. Wer überall stark sein will, ist im Ergebnis überall schwach. Das beschreibt auch ganz gut die Lage unserer heutigen Armee.

Die Forderungen des Weißbuches zielen unbeirrt in die entgegengesetzte Richtung. Sie verlangen eine verstärkte Rolle der Bundeswehr "im gesamten Einsatzspektrum", und zwar multifunktional, adaptionsfähig, agil und resilient. Gut gebrüllt. Nur treibt das Weißbuch so die Überforderung, welche die Truppe seit Jahren demontiert und auch frustriert, auf die Spitze. Der Verdacht liegt nahe, dass sich hinter diesem Ansatz weniger eine aus der Lageanalyse geborene Logik, sondern eher Entscheidungsschwäche verbirgt.

Es geht um den existenziellen Schutz von Souveränität und territorialer Integrität

Dynamik und Geschwindigkeit globaler Entwicklungen lassen sich nicht solide vorhersagen. Niemand weiß, was morgen geschieht. Überraschung wird zum Normalfall. Überdeutlich zeigen dies die jüngsten Konflikte mit Wladimir Putins Russland, die uns aus dem schönen Glauben gerissen haben, in Europa sei unumkehrbar tiefer Frieden ausgebrochen. Umso mehr kommt es darauf an, die Bundeswehr mit höchster Priorität auf das zu konzentrieren, was nur sie kann und was im Falle des Misserfolgs den größten Schaden für Deutschland und Europa verursachen würde: Der existenzielle Schutz von Souveränität und territorialer Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten. Hier dürfen wir uns, was unseren militärischen Beitrag zur Sicherheitsvorsorge betrifft, keine Schwächen erlauben.

Alles andere, von internationalen Kriseneinsätzen bis hin zu humanitärer Hilfe bleibt fraglos auch wichtig. Eine fallweise Beteiligung der Bundeswehr auch auf diesen Gebieten gehört weiter zu den politischen Optionen - aber eben nicht auf Kosten der Hauptaufgabe Landes- und Bündnisverteidigung. Und wer glaubt, Streitkräfte ließen sich von heute auf morgen per Knopfdruck umsteuern, liegt falsch. Dazu sind Fragen von Personal, Ausrüstung und Ausbildung viel zu komplex.

Im Ergebnis bedeutet das: In der Breite noch mehr als bisher die nicht-militärischen Mittel der Krisenprävention oder -bewältigung fördern und zugleich auf eine intelligente internationale Arbeitsteilung vertrauen. Aber dazu bräuchte man wiederum eine übergreifende Strategie und eine enge Vernetzung aller. Womit wir wieder am Anfang stehen.

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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