Außenansicht:Streik muss sein

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Thomas Böhle, 62, leitet seit 17 Jahren das Personalreferat der Stadt München und ist Präsident der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände Deutschlands. (Foto: oh)

Ob in der Metallindustrie oder im öffentlichen Dienst: Tarifrunden laufen oft nach dem gleichen Ritual ab.

Von Thomas Böhle

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Verhältnisse noch klar, jedenfalls in Bayern. Im Jahr 1911 kamen beide Kammern des bayerischen Landtags, die Reichsräte und die Abgeordneten, überein, dass Streiks, im konkreten Fall in den Verkehrsanstalten und der Post, absolut unzulässig seien. Staatsregierung und Landtag zeigten nach eigenem Verständnis ohnehin weitgehende Fürsorge für die Beschäftigten, weshalb sie einen Streik für unverschämt erachteten. Darüber hinaus waren sie der Auffassung, dass ein Ausstand eine schwere Gefährdung des öffentlichen Wohls und wichtigster Staatsinteressen zur Folge hätte. Lange vorbei. Heutzutage sind Streiks, gerade im öffentlichen Dienst, an der Tagesordnung.

Parteien, Verbände, Kirchen, und inzwischen selbst der ADAC verlieren mehr Mitglieder, als sie durch das Anwerben von neuen kompensieren können. Die Gründe dafür mögen der Trend zur Individualisierung sein oder ein Unbehagen, sich in Organisationen zu binden. Allerdings gibt es auch Organisationen, die stabile bis steigende Mitgliederzahlen melden können: Dazu gehören die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und die im öffentlichen Dienst führenden Gewerkschaften Verdi und Beamtenbund.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in regelmäßigen Abständen das Erfolgsstück "Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst" zur Aufführung kommt.

Der äußere Ablauf von Tarifverhandlungen ist recht überschaubar: Die Gremien der Gewerkschaften beschließen eine Forderung, von der alle Beteiligten wissen, dass sie nicht annähernd das Ergebnis sein wird. Die Arbeitgeber weisen die Forderung als "maßlos", "unrealistisch", "überzogen" zurück. Wochen später beginnen die Verhandlungen. Sie werden von Warnstreiks begleitet, um die Arbeitgeber wahlweise zur Abgabe beziehungsweise Verbesserung eines Angebots zu bewegen, das, wann immer es kommt, von den Gewerkschaften für "völlig unzureichend" erklärt wird. Die Arbeitgeber wiederum halten die Streiks für "unangemessen und, "unverhältnismäßig". Soweit die Arbeitgeber in der ersten, zweiten oder dritten Verhandlungsrunde ein Angebot unterbreiten, verdankt sich dies nach Darstellung der Gewerkschaften allein dem Druck, den diese durch ihre Streiks ausgeübt haben. Die Arbeitgeber wiederum lassen sich durch die Aktionen, die sie selbstverständlich verurteilen, weder aus der Ruhe bringen noch von ihrer "konstruktiven Grundhaltung" abbringen - so die üblichen Formulierungen in ihren Erklärungen. All dies hat unbestreitbar zeremoniellen Charakter.

Zu den verlässlichen Reflexen der veröffentlichten Meinung zählt die Geißelung der Aktivitäten der Tarifvertragsparteien als "Rituale", welche wiederum mit Adjektiven wie "überflüssig", "althergebracht", "zeitraubend", "teuer" und "leer" versehen werden. Diese Geißelung ist ihrerseits nichts anderes als ein Ritual.

Das Wort leitet sich aus dem lateinischen ritualis ab, das den Ritus im Sinne einer religiösen Vorschrift oder Zeremonie, Brauch, Sitte, Gewohnheit beschreibt. Bei Ritualen handelt es sich in der Tat um nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlungen mit hohem Symbolgehalt. Bei Tarifverhandlungen gehören dazu die Konstituierung von Tarifkommissionen beider Seiten, Versammlungen, Umzüge, Streiks. Rituale bedienen sich strukturierter Mittel, um die Bedeutung einer Handlung (hier: der Ver-Handlung) nachvollziehbar zu machen. Sie wollen Bedeutungen und Zusammenhänge darstellen, über das profane Erscheinungsbild hinaus, sie wollen Halt und Orientierung geben. Durch den oft gemeinschaftlichen Vollzug besitzen Rituale einheitsstiftenden Charakter und fördern den Gruppenzusammenhalt.

Das Hauptinteresse der Gewerkschaft dient der Gewinnung neuer Mitglieder

Dreh- und Angelpunkt gewerkschaftlicher Aktivität ist die Orientierung an den Mitgliedern - an den derzeitigen und jenen, die man erst noch gewinnen will. Die Zahl der Eintritte ist maßgeblich vom Konfliktpotenzial und der Mobilisierungsfähigkeit in den Tarifrunden geprägt. Je konfliktorientierter eine Tarifrunde ist, desto mehr neue Mitglieder kommen. Es sind die kollektiven Erfahrungen, der gemeinsam durchgestandene Konflikt, die erlebte Solidarität, die die Bindung an die Gewerkschaft stärken. Daraus folgt: Mit einer "moderaten" Forderung stößt die Mobilisierungsfähigkeit einer Gewerkschaft schnell an ihre Grenzen.

Am Beginn jeder Tarifrunde steht das Journalisten-Ritual, nämlich die Frage: "Werden Sie den Gewerkschaften ein Angebot unterbreiten?" Worauf die Antwort der Arbeitgeber immer lautet: "Wir verhandeln nicht angebots-, sondern ergebnisorientiert." Ein Angebot, zumal in einem frühen Stadium, befriedigt zwar die Erwartungen der Öffentlichkeit, verschlechtert jedoch die eigene Verhandlungsposition, da es natürlich immer zu niedrig ist. Die andere Seite reagiert mit Abscheu und Empörung. Das Angebot wird selbstverständlich zurückgewiesen werden, zugleich markiert es aber die untere Grenze für die Verhandlungen markieren. Mit anderen Worten: Es treibt den Preis.

Ist die Frage nach dem Angebot beantwortet, folgt die nächste: Rechnen Sie mit Streiks? Es gibt Branchen, in denen es kaum Tarifrunden gibt, und es gibt Branchen mit Tarifrunden, die so gut wie nie bestreikt werden (etwa die Chemie). Dort schwanken die Eintritte in die Gewerkschaft kaum - während sie in den streikintensiven bei Streiks auf das Drei- bis Fünffache steigen. Realist ist also, wer die Frage, ob er mit Streiks rechnet, mit Ja beantwortet. Streiks sind notwendige Bestandteile einer Tarifrunde.

Paradoxerweise sind sie zugleich meist unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass sich die Parteien nähern und zu einem Kompromiss finden. Es werden von Anfang an mehrere Verhandlungsrunden anberaumt, die sich üblicherweise auf mindestens vier Wochen verteilen. Was gar nicht geht, ist vor der Zeit, also etwa in der zweiten von drei anberaumten Verhandlungsrunden zu einem Ergebnis zu kommen. Dies würde beiderseits als untrügliches Indiz dafür verstanden, dass man nicht alles versucht hat, die eigene Position durchzusetzen und dass man es versäumt hat, dem Verhandlungspartner das Optimale abzutrotzen. Ganz anders, wenn man die Zumutungen der Gegenseite auf der Straße, in den Verwaltungen und Betrieben über Wochen ertragen hat.

Und wenn dann am Ende, immer gegen Morgen - auch durch Erschöpfung - endlich ein Ergebnis zustande gekommen ist, haben alle gewonnen: die Gewerkschaften, weil sie das Optimale herausgeholt haben, und die Arbeitgeber, weil sie das Schlimmste verhindert haben.

© SZ vom 29.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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