Außenansicht:Eine Strategie für den Stahl

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Die Digitalisierung ändert die Produktion. Deshalb sind die Fusionspläne von Thyssenkrupp riskant.

Von Ulrich Blum

Die geplante Fusion des deutschen Stahlkonzerns Thyssenkrupp mit dem indischen Wettbewerber Tata hat in Deutschland heftige Proteste bei Arbeitern und Politikern ausgelöst. Viele sorgen sich, dass die Paritätische Mitbestimmung ausgehebelt wird; auch drohten, so die Befürchtung, Stellenabbau und Standortschließungen. Nachhaltig negative Auswirkungen auf die ohnehin bereits durch den Strukturwandel belasteten Regionen in Nordrhein-Westfalen stünden zu befürchten. Unterstrichen wird die Sorge der Arbeitnehmer jetzt noch durch die geplanten Werksschließungen bei Siemens. Andererseits sind viele Wirtschaftsfachleute der Meinung, die angekündigte Fusion sei angesichts der internationalen Wettbewerbslage weitgehend alternativlos, und man möge doch bitte bessere Vorschläge machen, um die Stahlproduktion in Deutschland zu retten.

Diese Argumentation vernachlässigt ein wichtiges technisches Moment, nämlich die Digitalisierung der Wirtschaft, die kurz vor ihrer vollen Entwicklung steht und den Ablauf der Produktion radikal verändern wird. Damit werden sich auch viele Fragen neu stellen: Wer kooperiert mit wem? Was ist die richtige Betriebsgröße? Welche Technik ist zu verwenden und insbesondere welche Kreislaufprozesse müssen aus Gründen der Nachhaltigkeit forciert werden? Davon betroffen ist ganz besonders die Rolle des Stahls.

Auch die Umweltökonomie wird sich in Zukunft grundlegend ändern; die gegenwärtige Debatte in der Öffentlichkeit trägt dem in keiner Weise Rechnung. Das Pariser Klimaabkommen zum Beispiel bedeutet in der Konsequenz letztlich nichts anderes, als dass die Wiederverwertung der in den Produkten verwendeten Rohstoffe und Werkstoffe beträchtlich erhöht werden muss. Das hat zum einen eine wichtige energiewirtschaftliche Seite, weil Gewinnung, Transport und schließlich auch die Produktion mit einem erheblichen Aufwand verbunden sind. Andererseits steht dem oft gegenüber, dass das Recycling von Werkstoffen mit unbekannten Rohstoffzusammensetzungen energetisch und technisch zu aufwendig ist.

Stahl bekommt eine völlig neue Rolle im Fahrzeugbau

Die Digitalisierung verändert hier vieles. Sie hält für nachhaltiges Wirtschaften Potenziale bereit, weil sie neue Produktionsabläufe und damit auch veränderte Geschäftsmodelle möglich macht. In jüngster Vergangenheit gab es einige wesentliche Innovationen, welche die Rolle der Stahlindustrie in einem neuen Licht erscheinen lassen. Sie könnten ihr möglicherweise eine Schlüsselposition in der Industrie, auch im Leichtbau, verschaffen. Gerade die neuesten Entwicklungen im Fahrzeugbau zeigen dies deutlich.

Grundlage für diese Sicht ist die innovative Gestaltung von Industrie 4.0, also die Verbindung der herkömmlichen Produktion mit dem Internet, bei den Werkstoffen. Man bezeichnet das auch als "Materials Data Space". Konkret bedeutet das: Für jedes Produkt wird in den Unternehmen so etwas wie ein digitaler Zwilling angelegt. Dieser zeichnet, einer Biografie ähnlich, die Historie des Produkts auf, von der Auswahl der Materialien, über das Design der Werkstoffe, also deren Abstimmung auf die Funktionen, die das Produkt zu erfüllen hat, über die Produktionsverfahren sowie die damit verbundenen Kosten bis zum neuesten Produktionsstatus. Im Gegenstrom können ökonomische und besonders umweltökonomische Informationen bereits in frühen Phasen des Produktionsprozesses eingebaut werden.

Damit kann man dann etwa zeigen, dass aus Gründen des Umweltschutzes ganz bestimmte Herstellverfahren oder die Verwendung ganz konkreter Rohstoffe verhindert und Ersatzlösungen gefunden werden müssen. Nach der Fertigstellung folgt der Verkauf an die Kunden, deren Wünsche bestmöglich erfüllt werden müssen. Dabei soll eine möglichst präzise Wiederverwertung ("sortenreine Trennung") der Materialien möglich werden. Alle drei Aspekte - Produktion, Verkauf, Wiederverwertung - kann man dann simultan organisieren, was als "Total Design Management" bezeichnet wird.

Oft wird der restriktive Datenschutz in Deutschland beklagt. Tatsächlich sind die deutschen Vorschriften hier von Vorteil, weil nur dann, wenn die intellektuellen Eigentumsrechte der Unternehmen an ihren Werkstoffen, Produkten und ihren Prozessen gesichert sind, auch Daten mit anderen geteilt werden kann. Nur dann, wenn klare Zugriffsrechte für bestimmte Nutzergruppen am digitalen Spiegel der Produktion gesichert sind, werden sich dezentral organisierte Datenstrukturen durchsetzen können. Die Hoffnung, dass dies gelingen wird, ist begründet: Deutschland erscheint aufgrund seiner strengen Datenschutzbestimmungen im Vergleich zu China oder den Vereinigten Staaten deutlich besser geeignet für diese digitale Integrationsleistung zu sein. Unternehmen wie beispielsweise Hanwha Q-Cells unterhalten deshalb ihre Forschungs- und Entwicklungszentrale in Bitterfeld, weil Deutschland im Hinblick auf unternehmerische Datensicherheit weltweit einer der besten Standorte ist.

Dem (Flach-) Stahl als zentralem Teil in modernen Verbundsystemen, wie sie bereits heute im Karosseriebau üblich sind, wird in Zukunft eine neue Bedeutung zuwachsen. Mit ihm werden Faserverbundstoffe auf der Basis von Glas- oder Kohlenstoffen ebenso wie Aluminium und Kunststoffe verbunden oder verklebt. Stahlbau könnte in dieser Verwendung zur Schlüsseltechnologie für einen Wirtschaftszweig werden, der für Deutschland - mit oder ohne Elektromobilität - im Fahrzeugbau und Maschinenbau an Bedeutung gewinnt.

Wer heute die Stahlproduktion aus der Hand gibt, könnte morgen den Anschluss bei integriert-digitalen Wertschöpfungsketten verlieren. Die Erfahrung lehrt, dass der Abzug von Kernkompetenzen mit ihren Führungszentren meist den Niedergang oder die Stagnation von ganzen Regionen auslöst, weil über das Schicksal vor Ort nicht mehr dort, sondern an Drittstandorten entschieden wird, wo einem die entfernten Werkbänke egal sind. Schließt Thyssenkrupp Standorte in Deutschland, dann findet die Entscheidung über den Werkstoff Stahl weitgehend in anderen Ländern statt, in China, Indien, Japan und Südkorea.

Eine strategisch ausgerichtete Stahlpolitik für Deutschland sollte folglich im Auge behalten, dass die Produktion künftig anders aussehen wird als heute und sich mit der Digitalisierung des Werkstoffs Stahl - über die ganze Lebensdauer der Produkte hinweg - neue Wertschöpfungshebel ergeben könnten, für welche die Erhaltung der Standorte in Deutschland sinnvoll und lohnend sein werden.

© SZ vom 13.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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