Außenansicht:Reform der Reform

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Bernd Maelicke, 75, ist Honorarprofessor an der Leuphana-Universität Lüneburg. Er war bis 2005 Abteilungsleiter im Justizministerium Schleswig-Holstein und zuständig für die Reform des Strafvollzugs. (Foto: oh)

Seit 2006 sind die Bundesländer für den Strafvollzug zuständig. Das hat sich nicht bewährt, wie der Fall Al-Bakr gezeigt hat.

Von Bernd Maelicke

Die Öffentlichkeit wird fast täglich durch Berichte über exemplarische Einzelfälle misslungener Resozialisierung aufgeschreckt. Hinter schlagzeilenträchtigen Skandalisierungen werden allerdings immer wieder anhaltende Strukturprobleme des Strafvollzugs in allen Bundesländern deutlich. Hier ist es Zeit für eine (selbst-)kritische Zwischenbilanz .

Das größte Problem liegt in der weiter viel zu hohen Rückfallquote - trotz aller Reformen seit Verabschiedung des alten Bundesstrafvollzugsgesetzes in den 1970er-Jahren. Etwa 40 Prozent der Strafgefangenen verbüßen eine Freiheitsstrafe von unter einem Jahr, 20 Prozent unter sechs Monaten, bis zu zehn Prozent sind Ersatzfreiheitsstrafen. Dies alles sind nicht die gefährlichen Intensivtäter, die seinerzeit im Zentrum der Reformüberlegungen standen. Etwa 50 Prozent aller Entlassenen kommen wieder in die Anstalten zurück, besonders viele aus dem Jugendstrafvollzug, noch mehr aus dem Jugendarrest. Etwa 40 Prozent werden bereits im ersten Jahr nach der Entlassung rückfällig.

Hinzu kommen wachsende Probleme wie die Drogensucht der Inhaftierten (bis zu 70 Prozent), von der Subkultur dominierter Drogenhandel, Erpressung, sexueller Missbrauch, psychisch auffällige Gefangene. Die Länder haben in den vergangenen Jahren unterschiedlich stark in Personal und Bauten investiert (noch immer sind die meisten Gefangenen in Bauten aus Kaisers Zeiten untergebracht). Bayern wendet pro Gefangenem und Jahr nur halb so viel auf wie Hamburg; ob sich auch die Rückfallquoten unterscheiden, geht aus den Zahlen der Länder nicht hervor.

Die Hoffnung auf einen Strafvollzug, der Probleme löst und die Gefangenen behandelt, hat sich also nicht erfüllt, auch nicht im internationalen Vergleich. Fachleute glauben inzwischen, dass in der alles dominierenden Männerkultur großer Anstalten Resozialisierung allein nicht erreicht werden kann, eher kommen Vollzugsschäden noch hinzu. Rückfallquoten lassen sich, so zeigt die Empirie, nur im Verbund der Haftanstalten mit ambulanten Integrationsalternativen erreichen. Dies sind die Bewährungshilfe, die Führungsaufsicht, forensische Ambulanzen und vor allem die freien Träger wie Diakonie, Caritas, Paritätischer Wohlfahrtsverband oder Arbeiterwohlfahrt, die für etwa 70 Prozent aller Entlassenen zuständig sind. Sie bieten bundesweit ein leistungsfähiges Netz an - bereits bei der Vorbereitung auf die Entlassung und danach in Wohn- und Arbeitsprojekten, der Drogenhilfe, bei der Entschuldung und der persönlichen Betreuung. Allerdings sind sie strukturell unterfinanziert - mehr als 90 Prozent der Mittel fließen in den extrem teuren und weitgehend unwirksamen Strafvollzug.

Mehr Bundeskompetenzen wären nötig für den Umgang mit Banden und Terroristen

Statt einer konzeptionellen und rechtlichen Neuorientierung kam es jedoch völlig überraschend im Spätherbst 2004 im Rahmen der Föderalismusreform zu einem zunächst als "aufgedrängte Bereicherung" verstandenen Angebot von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries,die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug vom Bund auf die Länder zu übertragen. Die Föderalismusreform II trat am 1. September 2006 in Kraft. Seitdem haben alle Bundesländer eigene Landesgesetze für den Jugendvollzug, für die Untersuchungshaft und für den Erwachsenenvollzug beschlossen, weitere folgten für die Sicherungsverwahrung und für den Jugendarrest. Insgesamt gibt es bereits in allen sechzehn Ländern mehr als sechzig verschiedene neue Gesetze.

Der Aufwand war immens, alle Landes-Justizministerien waren voll ausgelastet mit entsprechenden Vorlagen für ihre Landtage. Allerdings orientierten sich die meisten an Musterentwürfen, so dass es kaum Unterschiede zwischen den Gesetzen in den einzelnen Ländern gibt. Solche Unterschiede betreffen vor allem die Umsetzung der Gesetze - etwa beim offenen Vollzug, bei der Lockerung des Vollzugs oder bei der Personalausstattung. Die Qualitätsunterschiede in der Resozialisierung gab es bereits vor der Föderalismusreform, sie sind seitdem allerdings noch größer geworden.

Bei dem Thema geht es letztlich um die Einheit des Rechtsstaats in Deutschland. Die integrierende Gesamtzuständigkeit des Bundes wurde mutwillig zerstört - alle Experten hatten in der entsprechenden Anhörung des Bundestags davor gewarnt.

Auch in der Wissenschaft ist ein Flickenteppich entstanden. Die Ausstattung der Lehrstühle und der Kriminologischen Dienste wird reduziert, jedes Land geht seinen eigenen Weg. In der Praxis wachsen die Unterschiede, gravierende Sicherheitsprobleme entstehen zum Beispiel bei der Vollstreckung von Untersuchungshaft, wie das Beispiel des Terrorverdächtigen al-Bakr in der JVA Leipzig zeigt.

Auf Bundesebene ist eine Tendenz zur Verschärfung des Strafrechts festzustellen, die Länder werden bei der Umsetzung der daraus folgenden Maßnahmen aber allein gelassen. Bundespolitiker haben dafür keine legislative Verantwortung mehr und beachten immer weniger die Probleme der praktischen Umsetzung - freie Bahn für Populismus in Wahlkampfzeiten.

Dabei wären weniger Föderalismus und mehr Kompetenzen für den Bund erforderlich - gerade beim Umgang mit Tätern aus dem internationalen Terrorismus, mit grenzüberschreitender Bandenkriminalität, mit Schleuserbanden und dem wachsenden Ausländeranteil unter den Gefangenen. Welche Aufrüstung in die Sicherheit der Anstalten ist erforderlich? Brauchen wir länderübergreifende Vollzugsgemeinschaften mit Spezialanstalten ?

Ein demokratischer Rechtsstaat darf ein solches Verfahren wie die nunmehr mehr als zehnjährige und noch immer nicht vollendete rein legislative Reform nicht einfach stillschweigend hinnehmen. Und Bürger und Medien sind zu Recht besorgt über die alltäglichen Mängel des Resozialisierungs-Systems. Deshalb sollte der neue Bundestag nach der Wahl eine unabhängige Enquetekommission zu dem Thema einsetzen. Themen gibt es genug:

Entspricht die Idee eines Wettbewerbsföderalismus im Strafrecht und beim Strafvollzug der Intention des Grundgesetzes? Welche Folge hat die Kompetenzübertragung auf die Länder gehabt? Ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die Einheit des Rechtsstaats in Gefahr? Brauchen wir eine Reform der Reform? Und wie können Bund und Länder die gemeinsame Architektur von Einrichtungen für Sicherheit und Resozialisierung verbessern? Es reicht nicht, dass sich die Länder wechselseitig bestätigen, wie gut sie die Reform gesetzestechnisch bewältigt haben. Der Bundesgesetzgeber selbst ist gefordert, sich über Sinn und Unsinn seines Handelns ein eigenes Bild zu machen.

© SZ vom 03.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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