Außenansicht:Politiker, hört die Signale

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Das Ergebnis der Berlin-Wahl ist Ausdruck einer überforderten Gesellschaft. Die üblichen politischen Rituale taugen nicht mehr.

Von Armin Nassehi

Die Reaktionen auf die Berlin-Wahl vom vergangenen Sonntag liefen nach einem Skript ab, das wir kennen: Die Sätze all der Gewinner und Verlierer waren ebenso erwartbar wie die journalistischen Fragen, ob Gewinner mit Stimmenverlusten und Sieger ohne Regierungsmöglichkeiten wirklich Sieger und Verlierer sind; und was all das für den Bund bedeutet - business as usual. Etwas schwieriger ist es diesmal mit der AfD. Die hat zwar deutlich zugelegt und sich im Parteiensystem etabliert, das Ergebnis aber taugt nicht wirklich zur Katastrophendiagnose.

Vielleicht ist der größte Vorteil dieser ausgebliebenen Katastrophe, dass ihr Ausbleiben den Blick darauf lenkt, wie strukturlos die politische Landschaft inzwischen geworden ist. Auffallend ist, dass in den letzten Jahren meist die Parteien Stimmen verloren haben, die zuvor regiert haben - und zwar in den unterschiedlichsten Konstellationen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Regieren schwieriger geworden ist. Von den Zeiten jener 80-Prozent-Mehrheiten ganz zu schweigen, die die damaligen Volksparteien abgebildet haben. Im Berliner Abgeordnetenhaus unterscheiden sich die fünf größten politischen Kräfte nun gerade einmal um höchstens zehn Prozentpunkte. Ganz ohne Zweifel spielt das Flüchtlingsthema für die Deutlichkeit dieser Entwicklung eine wichtige Rolle - aber nicht als Ursache, sondern höchstens als Auslöser oder Katalysator.

Ursache dürfte eher sein, dass sich die Gesellschaft ganz offensichtlich auch in anderen Bereichen in eine ähnliche Richtung entwickelt. Im Bildungssystem herrscht eine große Unsicherheit darüber, was man jungen Menschen wie beibringen soll. Da wird auf der einen Seite die starke Flexibilität und Deregulierung des Denkens als wichtigstes Bildungsziel diskutiert. Andererseits versucht man dieses Ziel durch starke Regulierung, Kontrolle und Verschulung auf allen Ebenen zu erreichen; religiöser Glaube hält sich schon länger nicht mehr an die gewohnte Struktur kirchlicher Angebote. Manche Frage muss inzwischen ganz anders beantwortet werden, als es zuvor mit berechenbaren konfessionellen Milieus möglich war.

Auf den Märkten erleben wir, dass bisweilen nicht der Preis, sondern andere Mechanismen kaufentscheidend geworden sind: Moral und Ästhetik gehören dazu ebenso wie unterschiedliche Konsumstile. Zugleich wird gerade in der Wirtschaft deutlich, dass sich private Lebensformen und Arbeitswelt nicht mehr einfach so mit wenigen, leichten Handgriffen in Einklang bringen lassen. In der Ethik sehen wir, dass der Universalismusanspruch sittlicher Argumente nicht mehr gilt: Plötzlich sind mehrere Lösungen eines Problems nebeneinander möglich. Ähnlich verhält es sich in der Kunst mit ihren zerfließenden Kriterien von Qualität und distinktionsstarker Eindeutigkeit. In diesen Dimensionen ändert sich auch Politik.

Das Thema Flüchtlinge ist bei Populisten so beliebt, weil hier alles ganz einfach erscheint

Es ist aber nicht nur die stärkere Variabilität und Uneindeutigkeit, die hier ins Gewicht fällt. Was hier aufscheint, ist eine Ahnung davon, dass die Komplexität und Differenziertheit der Gesellschaft erst jetzt wirklich sichtbar wird. Politik kann sich immer weniger die Durchgriffsmöglichkeit aufs Ganze zurechnen und hat mehr Kontrolle verloren, als sie wahrnehmen kann. Interessanterweise rechnen Kritiker dieser "postdemokratischen" oder (am beliebtesten) "neoliberalen" Entwicklung dies der Politik selbst zu, was das Problem womöglich verniedlicht. Politik geht letztlich ihrer eigenen Funktion auf den Leim, kollektiv bindende Entscheidungen treffen zu müssen, zugleich aber eben nicht die Gesellschaft im Ganzen regulieren zu können. Im klassischen nationalstaatlichen Rahmen ließ sich das wenigstens noch simulieren.

Dass sich vieles an der Flüchtlingskrise festmacht, lässt sich dann leicht verstehen, denn in kaum einem Politikfeld wird das Missverhältnis von Kontroll- und Durchgriffswünschen und ihrer Unerfüllbarkeit deutlicher als hier. Und für die Populisten aller Couleur ist das Thema sehr einfach darstellbar, weil es so schöne Bilder produziert.

Eine Ahnung davon bekommt Politik nur über Wahlen. Paradoxerweise haben Wahlen eine Doppelfunktion: Sie sollen sachliche Erfolge oder Misserfolge belohnen oder abstrafen - zugleich sind aber Wahlen fast der einzige Mechanismus, an dem politische Akteure Erfolge oder Misserfolge registrieren können. Darauf muss sich Politik neu einstellen und andere Formen der Vertrauensbildung ausprobieren. Gerade die ehemaligen (sic!) Volksparteien wären die ersten Adressaten dafür, die Heimatlosigkeit der Konservativen zu beenden (CDU) oder dafür zu sorgen, dass in diesem Land sozialer Aufstieg leichter möglich wird (SPD).

Es ist kein Zufall, dass sich Protestparteien in Form der Linken und jetzt der AfD exakt wegen dieser offenen Fragen etablieren konnten - beide übrigens, anders als die Grünen in den 1980er-Jahren, ganz ohne etwas neu zu erfinden. Die Linken halten an der klassischen Regulierungsidee fest und sind tiefer in der eigenen Parteigeschichte verwurzelt, als es ihren zum Teil sehr wohlmeinenden führenden Akteuren lieb sein kann. Die AfD versucht den verunsicherten Konservatismus durch rechtsnationalen und rechtskonservativen Überschuss zu reetablieren.

Beides hängt an den alten Eindeutigkeiten und am Traum der politischen Gesamtkontrolle der Gesellschaft - und hier liegt die Lehre aus den vergangenen und den bis zur Bundestagswahl erwartbaren Wahlergebnissen. Die Alternative ist nicht Durchregulierung vs. Rückzug des Politischen. Vielmehr müssen die Möglichkeiten politisch Einfluss nehmen zu können, neu bestimmt und neu austariert werden. Es ist ein ebenso notwendiger Prozess, aber auch einer, der kaum verwundern kann, weil er nur politisch abbildet, was in anderen Bereichen der Gesellschaft auch stattfindet. Allein pragmatisches Reagieren wird da nicht weiterhelfen - es geht wohl eher um programmatische Neujustierungen. Wie schwer solche freilich im eigenen Milieu zu etablieren sind, erlebt gerade die Kanzlerin.

Was Berlin angeht, so wird wohl alles auf eine "r2g" abgekürzte rot-rot-grüne Koalition hinauslaufen. Das folgt nicht nur arithmetisch, sondern auch programmatisch einer gewissen Logik: Auf der Suche nach politischen Eindeutigkeiten wird ein solches linkes Bündnis versuchen, weitere Regeln und Kontrollen zu etablieren. Eine andere Politik, eine neue Ausrichtung, die auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert, ist von einer solchen Koalition jedenfalls kaum zu erwarten. Sie wird an der alten Idee der Kontrollversuche bei erlebtem Kontrollverlust hängen bleiben.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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