Außenansicht:Politik als In-sich-Geschäft

Lesezeit: 3 min

Rudolf G. Adam, 67, leitete von 2004 bis 2008 die Bundes- akademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Zuvor war er unter anderem Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. (Foto: Gero Breloer/picture alliance/dpa)

Der ausgehandelte Koalitions­vertrag enthält zu viele Festlegungen. Das beschneidet die Rechte der Abgeordneten.

Von Rudolf G. Adam

Sechs Monate nach der Wahl nimmt endlich eine Bundesregierung ihre Arbeit auf. Doch die Grundlage, auf der das geschieht, beschädigt das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. So überrascht der Koalitionsvertrag nicht nur mit banalen Phrasen ("Wir wollen eine Regierung bilden, die das Richtige tut"). Beunruhigender ist, was er über unsere Verfassungspraxis aussagt. Verfassungsnormen laufen ins Leere, Parteien gewinnen an Gewicht - auf Kosten der Wähler. Der Koalitionsvertrag entmachtet den Bundestag und damit das Volk, das dieser repräsentiert.

So soll der gesamte Bundeshaushalt 2018 etwa 340 Milliarden Euro umfassen. Der Koalitionsvertrag schreibt fest, was mit 46 Milliarden davon geschehen wird, vom Kindergeld bis hin zu Glasfasernetzen, Regionalverkehr und sozialem Wohnungsbau. Das sind immerhin 13,5 Prozent der gesamten Ausgaben. Dabei liegt das Königsrecht des Bundestages darin, über die Ausgaben der Regierung maßgeblich mitzubestimmen. Durch öffentliche Debatten und Abstimmung seiner Vertreter befindet damit letztlich das Volk selbst über die Verwendung der geleisteten Steuern und kontrolliert Argumente und Verhalten seiner Repräsentanten.

Dieses Recht unterläuft der Koalitionsvertrag. Er ist in geheimen Absprachen zwischen Parteifunktionären ausgehandelt worden, die über ein Partei-, aber nicht über ein staatliches Mandat verfügen. Auf Seiten der CDU/CSU besaß ein Drittel der Delegation kein Bundestagsmandat, bei der SPD war es mehr als die Hälfte. Zwar kamen einige der Verhandler aus dem Bundesrat, aber der vertritt nicht das Volk, sondern die Bundesländer. Seine Mitglieder traten nicht als Gesandte ihres Bundeslandes, sondern als Parteifunktionäre auf. Widerspruchslos nahmen die Fraktionen ihren Ausschluss von Verhandlungen über ihre Kernzuständigkeit hin.

Damit wertet der Vertrag den Bundestag zumindest teilweise zum Vollzugsorgan von Parteigremien herab. Die Kernsätze lauten: "Die Koalitionspartner verpflichten sich, diese Vereinbarung im Regierungshandeln umzusetzen. Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen." Damit wird der Abgeordnete im Voraus für vier Jahre auf den Vertrag festgelegt und zum willenlosen Werkzeug seiner Partei degradiert. Er ist nicht nur im Einzelfall, sondern generell der Fraktionsdisziplin unterworfen; die Fraktionen werden ihrerseits in die Pflicht genommen, ohne ein Mitspracherecht zu haben.

1983 hatte der Vertrag noch neun Seiten, der von 2018 liegt bei gut 100 Seiten

Es gilt, dass jeder Volksvertreter frei ist, sich selbst zu verpflichten. Hier wird er jedoch in die Pflicht genommen, ohne beteiligt zu sein. Die frei gewählten Vertreter des Volkes werden damit ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt. Der Koalitionsvertrag geht zu Lasten der Fraktionen. Dass sich gegen diese Verfahren so wenig Protest aus dem Bundestag erhebt, ist mindestens erstaunlich.

Solche Bestimmungen sind ein Novum. Die Koalitionsverträge von 1961 und 1983 begnügten sich noch mit Absichtserklärungen auf nur neun Seiten. Die dazwischenliegenden Koalitionen verkündeten ihr Programm immerhin in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Parlament. So wurde der Volksvertretung gebührend Respekt gezollt. Von 1998 an schwollen die Koalitionsverträge dann auf weit über 100 Seiten an. Aber auch 2005, 2009 und 2013 bestehen die Vereinbarungen im Wesentlichen noch aus politischen Zielbestimmungen und enthalten keine nennenswerten Mittelzuweisungen. Eine derart detaillierte Kombination von politischen Zielen und ihrer Finanzierung wie im jüngsten Koalitionsvertrag hat es zuvor nicht gegeben. Frühere Vereinbarungen umschrieben politische Vorhaben und sprachen von "wir wollen". Der Koalitionsvertrag von 2018 beschreibt konkrete Maßnahmen und spricht von "wir werden".

So stellt der Koalitionsvertrag auch höhere Beiträge zum EU-Haushalt ohne Gegenleistung in Aussicht. Dabei zeichnen sich nach dem Ausscheiden Großbritanniens harte Verhandlungen über den Finanzrahmen der kommenden sieben Jahre der EU ab. Am Vorabend solcher Verhandlungen kommt solch eine Zusage der Aufforderung gleich, Deutschland noch stärker als Nettozahler in die Pflicht zu nehmen. Ist das taktisch klug?

Die Koalition will außerdem den ESM zu einem parlamentarisch kontrollierten europäischen Währungsfonds entwickeln und im Unionsrecht verankern. Kontrollrechte sind ein Nullsummenspiel: Was der eine an wirksamer Kontrolle gewinnt, muss der andere verlieren. Wenn das Europäische Parlament dieses wichtige finanzielle Kontrollrecht erhält, muss der Bundestag darauf verzichten. Der in der Koalitionsvereinbarung nachgeschobene Satz - "Die Rechte der nationalen Parlamente bleiben davon unberührt" - ist bestenfalls idealistisches Wunschdenken. Schlimmstenfalls ist er eine bewusste Irreführung.

Vor diesem Hintergrund klingt es hohl und höhnisch, wenn es heißt: "Wir stärken den Bundestag als zentralen Ort der politischen und gesellschaftlichen Debatte. Wir stärken die Entscheidungsfindung in Bundestag und Bundesrat." Was soll denn debattiert werden, wenn die Ausgaben festgeschrieben sind und das Abstimmungsverhalten vorgeschrieben ist? Der Bundestag, Kern und Fundament repräsentativer Demokratie, wird hier ins Abseits gestellt. Politik wird zu einem In-sich-Geschäft professioneller Parteifunktionäre.

Das Zustandekommen des Koalitionsvertrags zeigt, wie weit die Parteien sich als effektiven Filter und Verwalter des Wählerwillens zwischen Wähler und ihre durch Wahlen legitimierte Repräsentanten geschoben haben. Das Grundgesetz sagt: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" (GG, Art. 20, 1) und "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (GG Art. 38, 1).

Liegt das Vorgehen der Koalitionäre noch innerhalb dieser normativen Vorgaben? Oder lässt es sich nicht besser so beschreiben: "Die Parteien verkörpern den Wählerwillen. Abgeordnete sind an Aufträge ihrer Parteibasis und Weisungen des Parteivorstandes gebunden"?

Legitimation durch verfassungsgemäßes öffentliches Verfahren bildet den Kern einer säkularen Demokratie. Wenn das tatsächliche Vorgehen so weit von den gesetzlichen Normen abweicht, ist es kein Wunder, dass sich Politikverdruss und Desillusion einstellen und Wähler sich von Parteien abwenden.

© SZ vom 20.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: