Außenansicht:Lehmans Lehren

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Rudolf Hickel, 76, ist deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Er war Hochschullehrer für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen. (Foto: picture alliance / dpa)

Vor zehn Jahren verkündete die Bundeskanzlerin: Die Einlagen der Sparer sind sicher! Ein gewagter Satz war das, aber die Beruhigungspille wirkte. Doch trotz aller Versprechen und trotz strengerer Bankenregulierung: Die Gefahr einer neuen Finanzmarktkrise ist nicht gebannt.

Von Rudolf Hickel

Als am 15. September 2008 die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers pleiteging, erzitterte die Welt. Es war der Beginn einer Wirtschaftskrise von beispiellosem Ausmaß. Rund um den Globus mussten die Regierungen Banken vor dem Zusammenbruch bewahren, die Konjunktur stürzte ein. Und viele Bürger fragten nach dem Warum.

Die Antwort führt zurück in die 1980er- Jahre, als sich die Herrschaft der Finanzmärkte über die Gesamtwirtschaft mit Macht durchzusetzen begann. Seit Jahrzehnten erlebt die Welt eine gewaltige Expansion von Vermögensansprüchen, privaten wie öffentlichen Schulden, im Verhältnis zur Realökonomie. Die Ursache der Krise liegt im aggressiven Wachstum von Spekulationsgeschäften, die sich am Ende oft als toxisch erwiesen. Diese Expansion von Risikopapieren traf auf ein schlecht reguliertes Finanzsystem. Hohe Wertverluste drohten Banken zu ruinieren und rissen die Wirtschaft mit in den Abgrund.

In Erinnerung an die große Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre verbreitete sich die Sorge, ein massenhafter Run auf die Finanzinstitute könne Bankenfeiertage erzwingen. Die Bundesregierung entschied sich für einen Paukenschlag: Vor zehn Jahren, am Sonntag, dem 5. Oktober 2008, versicherten die Bundeskanzlerin und der damalige Bundesfinanzminister einer besorgten Öffentlichkeit: "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind!" Das Volumen dieser Einlagengarantie wurde auf gigantische 1,5 Billionen Euro geschätzt.

Was aber, wenn der moralische Appell à la Ludwig Erhard verpufft wäre? Die Verschuldung, die anschließend auch durch Rettungsprogramme (allerdings viel geringer) gestiegen ist, hätte den Schuldenstand gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt von 65 Prozent im Jahr 2008 auf mehr als 120 Prozent ansteigen lassen. Die Zinsbelastungen hätten die öffentlichen Haushalte gesprengt. Doch die Beruhigungspille von Kanzlerin und Finanzminister wirkte, der befürchtete "schwarze Montag" mit geschlossenen Bankschaltern fiel aus.

Dass der große Banken-Crash Deutschland erspart geblieben ist, hat allerdings andere Gründe: Erstens wurde ein Rettungsfonds für Krisenbanken mit einem Volumen von insgesamt 500 Milliarden Euro aufgelegt. Nach neuen Schätzungen wurden die Steuerpflichtigen bisher mit ungefähr 68 Milliarden Euro belastet. Dazu kam die expansive Politik der Notenbanken, die Finanzinstitute mit der dringend benötigten Liquidität versorgten. Zweitens gelang es, den der Bankenkrise folgenden Einbruch der eigentlich gesunden Gesamtwirtschaft zu begrenzen. Dieser Erfolg sollte in die Lehrbücher aufgenommen werden. Denn die kurz zuvor noch verpönte antizyklische Finanzpolitik in der Tradition von Keynes brachte die Rettung. Zwei Konjunkturprogramme zusammen mit einer mutigen Verlängerung des Kurzarbeitergeldes bis auf 24 Monate verhinderten eine anhaltende Wirtschaftsdepression und massiven Jobabbau. Drittens wirkte kurz nach dem Schock der versprochene Ausstieg aus der Politik der Entfesselung der Finanzmärkte einigermaßen glaubhaft.

Insgesamt allerdings fallen die Lehren, die aus der ersten finanzmarktgetriebenen Globalisierungskrise gezogen wurden, widersprüchlich aus. Auf nationaler Ebene, im Kontext der EU und international wurde viel unternommen zum "Bau einer gemeinsamen Brandmauer, um das Übergreifen von Feuer zu verhindern", wie der Vater der Ökonomie, Adam Smith, im Jahr 1776 schrieb. Bankengeschäfte wurden strenger reguliert: Das normale Kundengeschäft wurde vom spekulativen Investmentbanking getrennt; Banken müssen sich mit angemessen hoher Quote an Eigenkapital gegen Verlustrisiken absichern; für viele Derivate gibt es neue Gebote oder sogar Verbote; der Hochfrequenzhandel wurde entschärft, die wachsenden außerbörslichen Geschäfte ("over the counter") werden kontrolliert und die Fehlleistungen von Rating-Agenturen bekämpft. Auch die Schaffung einer EU-Bankenunion weist in die richtige Richtung. Ihre drei Säulen sind die Aufsicht, die Bankenabwicklung mit einer Teilhaftung der Bankeneigentümer ("bail-in") sowie die gemeinschaftliche Einlagensicherung.

Am Beispiel Deutschlands zeigt sich jedoch: Es wurden zwar allerhand Regulierungsmaßnahmen ergriffen, sie sind aber in sich nicht stimmig. Das lag auch an der einflussreichen Lobbyarbeit im Auftrag der Finanzinstitute. Richtig ist allerdings auch, dass sich das zerstörerische Potenzial der Finanzmärkte selbst mit der besten Regulierungspolitik allein nicht bändigen lässt. Die entscheidende Frage ist, wer den Druck im Kessel der Finanzmärkte erzeugt. Es ist das weltweit überschüssige Geldkapital, das immer wieder zu Spekulationsblasen führt. Die Treiber sind die Vermögenden und Einkommensstarken, die ihre illusorischen Renditeerwartungen auf völlig überschätzte Finanzmärkte konzentrieren. Hinzu kommen die Unternehmen aus der Produktionswirtschaft, die anstatt Sachinvestitionen zu finanzieren, leichter verdiente Renditen durch Spekulationsgeschäfte einheimsen wollen.

Das Kernproblem ist das Übersparen. Die produzierten Einkommen finden über ausreichende private und öffentliche Nachfrage kaum den Weg zurück in die Produktionswirtschaft. Staubsaugern vergleichbar sind es die Investitions-, Hedge- und Private-Equity-Fonds zusammen mit dem Investmentbanking, die das Geldkapital weltweit mit dem Versprechen lukrativer Verwertung ansaugen. Die "Finanzalchemisten" bieten mit abenteuerlichen Spekulationsinstrumenten ihre Hilfe an.

Es geht nicht mehr nur um die Bändigung der altbekannten Risiken. Neue bedrohliche Risiken kommen hinzu: ein gigantischer Berg an faulen Krediten in den Bankbilanzen, Belastungen durch die sich geldpolitisch abzeichnende Zinserhöhung und vor allem die Schattenbanken, die ohne Kontrolle ähnliche Geschäfte wie Banken durchführen und auch noch mit dem regulierten Bankensystem verbandelt sind. Es gibt nur die Antwort: Den alten und neuen Risiken muss politisch entschieden begegnet werden. Es bleibt bei der Forderung von Paul Krugman vom April 2009: "Making banking boring", macht die Bankgeschäfte stinklangweilig.

Darüber hinaus muss radikal der gewaltige Druck im Kessel der Finanzmärkte reduziert werden. Dabei würde es helfen, dem Übersparen entgegenzuwirken, indem Vermögen und Einkommen gerechter verteilt werden. Erwirtschaftetes Einkommen muss in die Realwirtschaft investiert werden. Dazu gehören auch Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur, die einer nachhaltigen Wirtschaft nützen.

© SZ vom 05.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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